Huhn mit Backpflaumen

Bei einem Festschmaus für 8 Personen benötigt man:

Zutaten:

2 Hühner
2 Porreestangen
4 Möhren
2 Zwiebeln
4 Gewürznelken
8 Stängel Petersilie
4 Zweige Thymian
1 Lorbeerblatt
Salz
Pfeffer

300 g durchwachsener Speck
4 große Zwiebeln
2 Msp. Safran
2 TL Zucker
ca. 20 Backpflaumen
100 g Rosinen
ca. 20 Datteln
150 g Mandelstifte geteilt
70 g Ingwer, gemahlen
250 g Zimt
10 g Gewürznelken
10 g Kardamom (ganze Körner)
250 g brauner Zucker

Zubereitung:

Porree, Möhren und Zwiebel putzen und in Scheiben schneiden. Das Huhn in einen Suppentopf geben, Porree, Möhren und Zwiebel mit den Nelken, Salz, Pfeffer, dem Thymian und der Petersilie dazugeben. Evtl. noch ein Lorbeerblatt dazu. Mit soviel kaltem Wasser auffüllen, bis das Huhn gut bedeckt ist. Eine gute Stunde kochen, das Huhn soll gar, aber nicht zu weich sein. Aus der Brühe nehmen und abtropfen lassen. Das Huhn zerteilen, das Fleisch in kleine Stücke schneiden.

Rosinen in warmem Wasser einweichen, dann abgießen. Mandelstifte in einer Pfanne anbräunen lassen.

Den Speck in Würfel schneiden und in einem Schmortopf glasig anlaufen lassen. Die in Scheiben geschnittenen Zwiebeln dazu geben und goldgelb braten. Mit einem Schaumlöffel aus dem Topf heben. Das Hühnerfleisch hineingeben und von allen Seiten goldbraun braten. Salzen, pfeffern und Speck und Zwiebeln wieder dazu geben. 1 Msp. Der Gewürzmischung (Herstellung folgt), Safran und Zucker dazu geben. Die Backpflaumen, die entsteinten Datteln und die eingeweichten Rosinen hinzufügen. Ca. 10 min durchziehen lassen.

Auf einer heißen Platte anrichten, die Mandelstifte darüber streuen.

Für die mittelalterliche Gewürzmischung (Pouldre fine) Ingwer, Zimt, Gewürznelken, Kardamom und Kandiszucker miteinander vermischen und fein mahlen, am besten im Mörser. Die Menge reicht eine ganze Weile und für viele Mittelaltergerichte aus. Dazu in einem dunklen, fest schließenden Glas aufbewahren, damit sich das Aroma erhält. Kleine Mengen kann man in einem Salzstreuer zum Kochen bereithalten.

Das Zubereiten dauert in etwa eine Stunde und ist leichter als es anfangs scheint.

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Über den Kyffhäuser

Ein ganz ordentlicher Haufen von Bauernlümmels, gefährlich aussehenden Waldleuten und blassen Stadtmenschen hat Aufstellung genommen. Die Männer wollen möglichst schnell wieder dahin zurück, woher sie gerade gekommen sind – in die Arme ihrer Freundinnen und Frauen. Das schöne Weibervolk guckt dann auch ein wenig bedeppert, als das Vorspiel so unangemessen lange hinausgezögert wird und der Tambourmajor verkündet: „Einen haben wir noch!“ Das Musikchor spielt den Yorck’schen Marsch, Beethovens berühmte Auftrags-Komposition, die eigentlich von allen Militärs, die nach seiner Kaiserlichen Hoheit, Erzherzog Anton kamen, für ihre persönlichen Zwecke mißbraucht wurde.
Auch Erich ließ sich diesen Marsch gerne blasen. Irgendetwas muß also dran sein an dem guten Stück. Selbst mein Vater hatte sich seiner angenommen und sich einen ganz anderen, zugegebenermaßen etwas haarigen Reim darauf gemacht…
Die Mannspersonen, die sich da aufgebaut haben, wollen, daß es endlich losgeht. Seit Stunden stehen sie sich die Beine in den Bauch. Sie werden langsam unruhig. „Ruhe im Glied!“ zischts da wie aus einem Schlangenkorb. Auf den Tag genau sind wieder einmal 100 Jahre vergangen, und es ist allerhöchste Zeit, daß sich das lange Warten auszahlt.
Der Rotbärtige blinzelt mir zum wiederholten Male komplizenhaft zu. Die da könnten ihm gefallen! Ich weiß! – „Sag ihnen, ich zahle gut, wenn auch in den bekannt großen Zeit-Abständen…!“ nuschelt er in seinen roten Bart. Er braucht halt unbedingt, bevor der Laden hier endgültig geschlossen wird, noch ein paar zuverlässige Leute, mit denen es sich aushalten läßt.
Allerlei wunderbares Weibervolk kommt jetzt hinzu. Man merkte sofort, woher es kommt, wes Weib es ist. Ich kenne es zur Genüge. In dieser übernatürlicher Form kennen „die von drüben“ ihre Hexen natürlich noch nicht. Aber selbstverständlich sind auch sie begierig darauf, so etwas in der Art einmal kennenzulernen. Man muß halt nur einmal ihre diesbezüglichen Bittgesuche lesen. Da weiß man doch alles! Da bedarf es doch gar keiner Erklärungen mehr. Es ist doch immer wieder dasselbe. Schon so manch einer hat dann den folgenden Parforceritt auf dem Hexen-Besen nicht ohne Blessuren überstanden. „Au! Au! Au! Au! Verdammtes Tier! verfluchte Sau!“ Bevor sich so einer in der feuerroten Hexenmähne überhaupt erst richtig festkrallen kann, ist er bereits hinten wieder abgängig. „Hoppe, hoppe Reiter, wenn er fällt, dann schreit er…“
Ich freue mich, daß sie doch noch gekommen sind. Diese Weiber haben es drauf. Die etwas anders sozialisierten Hexenfrauen, besonders die „over 40“, bringen alles Dagewesene total durcheinander. Und da ist auch keine unter den Weibern, die sich plötzlich, wie im Schreck, die Hand vor den Mund schlüge – Oi !- , nur weil sie vielleicht ein wenig zu weit gegangen sein könnte in ihrem Mut und Übermut. Gewohnt unbotmäßig mischt sich dieses Weibervolk ins laufende Geschehen ein und redet sich um Kopf und Kragen. Es diskutiert gar nicht erst, sagt einfach so seine Meinung. Das ist neu für die diskussions-wütigen AltachtundsechzigerInnen, die auch hier neuerdings das Sagen haben. Obwohl man den Stammsitz des reinen Frauenbetriebes (nur ein paar Kilometer von hier entfernt, Luftlinie nicht einmal 30 km) beibehalten hat, ist der gesamte Vorstand komplett ausgewechselt worden. Staatsnähe lag nahe. Berufsbedingte Kontakte zur „Firma“ ließen sich wohl nicht länger leugnen. Regelmäßig, so wußte so ein altes Waschweib dem „Spiegel“ zu stecken, wäre in der Hexenküche ein dubioser Herr aufgetaucht, der sich immer nur als Mephisto vorgestellt habe. Einer! Daß ich nicht lache! Die Klinke haben sich diese Stasimänner in die Hand gegeben. Hier ist wirklich alles das gelaufen, was sich zwischen Himmel und Erde vorstellen läßt. Ich sage nur „Unternehmen Romeo“. Mal sehen, was am Montag im „Spiegel“ steht?
Gegen alle Regeln der Vernunft haben die Weiber nun auch noch ihren Schwebezustand aufgegeben und sich im Tiefflug auf den langen Weg nach hier oben gemacht. Für die Zuschauer an der Strecke eine große Freude. Ein Vergnügen, ihnen bei der Flugschau zuzuschauen. Klasseweiber das. Alle.

Was ist das hier?
Wer seid ihr hier?
Was wollt ihr da?
Wer schlich sich ein?
Die Feuerpein
Euch ins Gebein!

Zu früher überhaupt keine Parallele. Die, die man so leichthin „alte Hexen“ nennt, toben sich gewaltig aus. Sie haben es sich im Traum nicht mehr vorstellen können, daß sie es noch einmal so ungehemmt treiben dürfen, herumfliegen können, wie und wo sie es nur wollen. Start ist nach wie vor auf dem Blocksberg. Aber dann! Dann ist alles anders. Die meisten hier fliegen die allerneuesten Rutenbesen von „Airbroom & Co,“ nicht mehr die anfälligen sowjetischen Straßenfeger von Tupolew. Nun ist gleich überhaupt kein Halten mehr. Wenn sie wollten, könnten sie auf einen Ritt bis zur Zugspitze durchbrausen. Aber sie wollen nicht! Was sollen sie dort?! Heute wird am Kyffhäuser geflogen, dem Rabenberg. Hier ist Action angesagt. Und wieder sind es die ausgereiften Modelle, die, die es dem Nachwuchs noch einmal so richtig zeigen wollen. So manches dralle Weib scheint dabei ein wenig zu weit zu gehen. Es fliegt zwar zügig, aber vielleicht doch ein wenig zu freizügig über die hocherhobenen Köpfe der Schaulustigen hinweg. Alle Kraft – man sieht das deutlich – geht dabei vom aerodynamisch geformten Fleische aus. Solche Extratouren bringen die Veranstaltung erheblich in Gefahr, Imponderabilien dieser Art mag man sich hier nicht leisten. Was ist da schon das lächerliche Wackeln mit so einem bemitleidenswerten Ärschchen, wie man es von anderen Flugtagen kennt. Schon spricht man hi und da von Abbruch.
Mutwillig vom Blocksberg und der festgelegten Flugroute abgewichen, geben die alten Maschinen selbst bei der Ankunft noch eine Extra-Einlage. Muß das wirklich sein?! Sie drehen Loopings, schlagen Purzelbäume, reizen die Technik voll aus. Die erfahrensten Hexen, die sogenannten – auch drüben wohl so genannten – ÜberfliegerInnen, überraschen die Anwesenden mit noch nie dagewesenen Vorführungen. Diese Weiber sind Höllenweiber. PerfektionistInnen. Spitzenathleten. Alle entstammen sportbegeisterten Familien. Hexen-Dynastien. Als Schlußfliegerin landet Renate, meine personengebundene Hexe. Ihre so überaus kreativ gestaltete gesamtdeutsche Hexenmähne in der Hand, kommt sie winkend auf mich zu. Was soll denn das nun wieder heißen? Sie läßt jetzt voll die Hexe raushängen. Mit kaum verholener Lüsternheit blickt sie mich von der Seite her an, daß ich schon überlege, ihr einfach hinten auf den Besen zu steigen – und dann aber ab durch die Mitte!

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Der kadylonische Eber

In Kalydon, einer Stadt in der Landschaft Aitolien im Westen Griechenlands, herrschte König Oineus. Er war vermählt mit Althaia. Sie schenkte ihm einen Sohn, den sie Meleagros nannten, und weil sich gar bald zeigte, dass der Knabe von dem unbändigen Geiste und der Kraft des Kriegsgottes erfüllt war, erhielt er den Beinamen „Sohn des Ares“. Als das Kind sieben Tage alt war, traten die drei Moiren, die mächtigen Göttinnen des Schicksals, an das Wochenbett der Königin und bestimmten weissagend die Erdenwege des Kindes. Klotho, die den Spinnrocken hält, verhieß ihm Tugend und Adelsinn; Lachesis, die den Lebensfaden dreht, Kraft und Mut; Atropos aber, die nach Streng verborgener Weisheit den Lebensfaden abschneidet und dem Menschen die Stunde bestimmt, da er ins Reich der Schatten muss, sagte: „Dieser Knabe wird so lange leben, als das Holzscheit dort im Herde noch nicht völlig verbrannt ist.“ Die Göttinnen entwichen, die Mutter aber sprang im selben Augenblick vom Lager auf, riss das kostbare Scheit aus der Flamme, löschte seine Glut und versteckte es sorgsam in ihrer Kammer.Meleagros wuchs heran und ward der schönste und herrlichste Held weit und breit. Die Götter hatten ihn mit dem Geschenk der Unverwundbarkeit gesegnet. Schon als bartloser Jüngling nahm er an dem berühmten Zuge der Argonauten nach Kolchis teil. Bald nachdem er von dort zurückgekehrt war, brach über sein Vaterland schlimmes Unheil herein. König Oineus hatte die ersten Früchte eines besonders gesegneten Jahres den Göttern dargebracht: Kornähren für Demeter, Weintrauben für Bakchos, junges 01 für Athene – nur der Artemis hatte er vergessen zu opfern, ihr Altar blieb kalt, kein Weihrauch stieg dort empor. Und die erzürnte Göttin rächte sich schrecklich. Sie ließ einen riesigen Eber auf die kalydonischen Fluren los. Aus den Augen des wilden Tieres brach lodernde Glut, Blitze entfuhren seinem schäumenden Rachen, aus dem die Hauer wie Elefantenzähne ragten, und die struppigen Borsten seines Nackens starrten gleich Schanz pfählen. Die Hufe dieses Ebers zerstampften die Wiesen, sein Rüssel zerwühlte die Weideplätze, sein Atem steckte die Äcker in Brand. Die Trauben fraß er mitsamt den Ranken, die prallen Olivenbeeren mitsamt den Blättern und Zweigen, und weder Hund noch Hirte vermochten die Schafe, noch die trotzigsten Stiere die Rinder vor dem wütenden Ungeheuer zu schützen. In dieser Not rief Meleagros die berühmtesten Helden aus ganz Griechenland zusammen, vor allem jene, die gleich ihm den Argonautenzug mitgemacht hatten, und bat sie, gemeinsam mit ihm dem Eber auf den Leib zu rücken. Auch die heldenmütige Jungfrau Atalante lud er ein. Sie war die Tochter des Königs lason von Arkadien, der sie gleich nach ihrer Geburt im Walde ausgesetzt hatte, aus Enttäuschung darüber, dass ihm kein männlicher Nachkomme beschieden war. In der Wildnis aufgewachsen, von Jägern gefunden und erzogen, war das Mädchen selbst eine tüchtige Jägerin geworden, die nichts von einem Manne wissen wollte. Jeden Freier wehrte sie von sich ab, und zwei Kentauren, die ihr in der Einsamkeit nachstellten, hatte sie durch Pfeilschüsse erlegt. Sie kannte nur eine Liebe, die Liebe zur Jagd, und diese trieb sie nun auch in die Gemeinschaft der Helden, die den schrecklichen Eber töten wollten. Atalante trug das schlichte Haar zu einem Knoten gebunden. Ober ihren Schultern hing der Köcher aus Elfenbein, den Bogen hielt sie in der Linken, und ihr Gesicht mit den kühn blitzenden Augen glich eher dem eines Knaben als dem Antlitz eines Mädchens. Als Meleagros Atalante in ihrer Schönheit erblickte, sagte er bei sich selbst: „Sie schreitet einher wie die jungfräuliche Artemis selber. Glücklich der Mann, den diese Frau zum Gatten erwählt!“ Dann raffte er sich auf und gab das Zeichen zum Beginn der Jagd. In breiter Linie durchschwärmten die Jäger ein uraltes Gehölz, das sich aus der Ebene einen Berghang hinanzog. Sie stellten Netze auf, ließen die Hunde los und folgten der Fährte des Untiers. Tief hatte ein Wildbach ein abschüssiges Tal ausgewaschen, in seinem Abgrund wucherten Binsen, Weidengebüsch und Schilf. Hier lag der Eber im Versteck, hier jagten die Hunde ihn auf, dass er, wie ein Blitzstrahl die Wetterwolke, das Gehölz durchbrach und sich wütend mitten unter die Feinde stürzte. Die Jünglinge schrien laut auf und hielten ihm die eisernen Spitzen ihrer Speere entgegen – aber das Untier wich aus, durchbrach eine Koppel von Hunden und wurde von den nachfliegenden Speeren nur gestreift. Voll Grimm kehrte es um und flog nun wie ein von der Wurfmaschine geschleuderter Felsblock in die rechte Flanke der Jägerlinie. Drei Männer verwundete es tödlich, ein vierter – es war der später so berühmte Held Nestor, König von Pylos – rettete sich in die Äste eines Eichenbaumes, an dessen Stamm der Eber nun mit funkelnden Augen und dampfender Brust seine schrecklichen Hauer wetzte, als könnte er damit die Eiche zu Fall bringen. Da sprengten, hoch auf schneeweißen Rossen sitzend, Kastor und Polydeukes, die Dioskuren, herzu und hoben die Speere zum tödlichen Wurf. Aber im selben Augenblick ließ das Ungeheuer vom Baume ab und flüchtete in unzugängliches Dickicht. Jetzt legte Atalante einen Pfeil auf ihren Bogen und sandte ihn dem Tier ins Gebüsch nach. Sie traf den Eber unter dem Ohr, und zum erstenmal rötete Blut seine Borsten. Jubelnd zeigte Meleagros die Wunde seinen Gefährten und rief: „Dir, o Jungfrau, gebührt der Preis!“ Die Männer aber schämten sich, dass ihnen ein Weib den Sieg streitig machen sollte, und warfen alle zugleich ihre Speere. Die Geschosse prallten jedoch in der Luft aneinander, und keines traf den Eber. Da brach das Untier aus dem Dickicht und schlitzte dem Arkadier Ankoias den Leib auf, ehe der Jüngling die geschwungene Streitaxt niedersausen lassen konnte. Iasons, des Argonautenführers, Lanze lenkte ein widriger Zufall in den Hals einer hechelnden Dogge. Meleagros aber wurde endlich der Sieg zuteil. Er hatte zwei Speere geschleudert: der erste fuhr in den Boden, der zweite in den Rücken des gewaltigen Tieres, das zu toben anfing und, roten Schaum vor dem Munde, sich im Kreise drehte. Nun fuhren von allen Seifen Spieße in seinen Leib, und auf die Erde hingestreckt, wälzte sich der Eber verendend in seinem Blute. Wohl setzte Meleagros, der Sieger, den Fuß auf den Kopf des Getöteten, dann aber zog er ihm mit Hilfe des Dolches die borstige Haut vom Leib und reichte sie, samt dem abgehauenen schrecklichen Haupte, der tapferen Atalante. „Nimm die Beute hin“, sprach er, „sie steht mir zu – doch soll ein Teil des Ruhmes auch auf dich fallen!“ Diese Ehre missgönnten die Jäger dem Weibe, sie murrten laut, und zwei Oheime des Meleagros, Brüder seiner Mutter, traten mit geballten Fäusten auf den verliebten Sieger zu, bedrohten ihn und entrissen der Jungfrau das Fell. Das war für Meleagros zu viel. Jähzorn übermannte ihn, und mit dem Rufe: „Ihr Räuber, lernet von mir, wie verschieden Drohungen von Taten sind!“ stieß er dem einen Oheim und, ehe der andere sich besinnen konnte, auch diesem das Schwert in die Brust. Königin Althaia war gerade auf dem Wege zum Tempel, um den Göttern für den Sieg ihres Sohnes über den Eber zu danken, als man die Leichen ihrer Brüder brachte. Wehklagend schlug sie sich die Brust, eilte in den Palast zurück und vertauschte die goldenen Freudengewänder mit dem tiefen Schwarz der Trauer; ihr Jammergeschrei erfüllte die Stadt. Als sie jedoch erfuhr, wer den Mord begangen habe, versiegten ihre Tränen, und alle Trauer verwandelte sich in Rachelust, Sie eilte in ihre Kammer, holte das seit Meleagros‘ Geburt sorgsam verhehlte Scheit aus seinem Versteck und stieß es in die Glut des Herdes. Das Kienholz loderte auf, und im selben Augenblick wurde Meleagros, der gerade durch die Straßen der Stadt auf den königlichen Palast seines Vaters zuschritt, von heftigem Fieber und verzehrenden Schmerzen befallen. Er unterdrückte beides mit Heldenkraft, eilte die Stufen des Hauses hinan, brach aber hinter der Schwelle zusammen. „0 dass ich eines so schmählichen, unblutigen Todes sterben muss!“ klagte er. „Wie beneide ich die Gefährten, die der Wut des Ebers erlagen!“ Und er rief stöhnend nach den Geschwistern, nach dem greisen Vater, nach seiner Mutter. Die Königin aber kam nicht. Sie stand regungslos am Herd und sah mit starren Augen dem sich verzehrenden Brande zu. „Wendet eure Blicke hierher zum Furienopfer, ihr Göttinnen der Rache“, murmelte sie, „und ihr, meiner Brüder abgeschiedene Geister, fühlet, was ich für euch tue, und nehmet das furchtbare Totengeschenk an: mein Kind! In meinem Herzen liegt die Mutter mit der Schwester im Kampfe, und die Schwester siegt über die Mutter, darum bricht mein Herz. Bald folge ich euch nach!“ Die Schmerzen ihres Sohnes wuchsen mit dem Feuer, doch als das glimmende Scheit allmählich verkohlte und zu Asche zerfiel, erlosch auch seine Qual, und mit dem letzten Funken hauchte Meleagros seinen Geist aus. Vater und Geschwister wehklagten über seiner Leiche, ganz Kalydon trauerte, nur die Königin war stumm: sie hatte sich mit eigener Hand erdrosselt. Vor dem Herde hingesunken, den Strick um den Hals, so fand man sie.

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Der Besen

Es war einmal, es war einmal – vor gar nicht allzulanger Zeit, da lebte in einem kleinen Ort in Vorarlberg ein junges Mädchen. Das Mädchen, das mit ihrer Familie oben am Berg wohnte, mußte jeden Morgen ins Tal hinuntersteigen um in die Schule zu gehen – und am Nachmittag mußte sie wieder zurück nach Hause.
Das viele Laufen gefiel ihr überhaupt nicht, und sie überlegte sich, wie sie ohne zu laufen, hinab-, aber auch wieder zurück hinaufkommen könnte.
Sie dachte an Schlitten, Fahrräder, Ski, … , aber nichts davon konnte ihr beide Wege ersparen. Eines schönen Tages erzählte sie ihrer Mutter von dem Problem, doch die lachte nur und meinte: „Tja, du müßtest eben eine Hexe sein, dann könntest du den Weg mit deinem Besen fliegen.“
Das kleine Mädchen dachte lange darüber nach und kam dann zu dem Schluß, dies sei wohl wirklich die einzige Lösung, und darum machte sie sich auf die Suche nach jemand, der ihr weiterhelfen könnte. Sie fragte im Dorf herum, sie suchte in der Bibliothek nach Büchern, aber sie fand nicht die kleinste Spur einer Hexe.
Dann hatte sie eine Idee: Sie würde einfach im Telefonbuch nachsehen!
Gesagt, getan! Sie rannte sofort ins Wohnzimmer zum Telefon und schlug das Telefonbuch auf.
“ … Hammer … Hegel … HEXE!“ Da war es. Zwar nur ein Eintrag, aber mehr wollte sie ja gar nicht. Sie wählte die Nummer, wartete ein Weilchen und plötzlich nahm jemand ab und sagte: „Gregoria Gurkenzahn, Hexe für Modernes und nicht ganz so Modernes, womit kann ich Ihnen helfen??“
Das kleine Mädchen war erstaunt, denn so sollte sich eine Hexe doch wirklich nicht anhören, nicht so geschäftsmäßig, und dafür mit einer krächzigen, furchtbaren Stimme.
Trotzdem nahm sie allen Mut zusammen und antwortete: „Grüßgott, hier spricht Sahra. Ich möchte einen fliegenden Besen kaufen.“
„Soso, einen Besen möchtest du kaufen? Wozu benötist du ihn denn?“
„Ich brauch ihn für meinen Schulweg, damit ich nicht so lange laufen muß, und mehr Zeit zum Spielen habe.“
„Soso, zum Spielen brauchst du die Zeit? Das ist natürlich ein guter Grund. Womit kannst du denn bezahlen?“
Bezahlen! Daran hatte Sahra gar nicht gedacht!
„Ich könnte dir meinen Teddybär geben, mit dem ich immer spiele.“
„Nein, nein, ich will dir nicht dein Spielzeug wegnehmen. Ich hatte mehr an sowas gedacht wie eine gute Tat zusätzlich am Tag. Und solange du das einhältst, wird der Besen bei dir bleiben, aber sobald du einen Tag ausläßt, wird der Besen wieder zu mir zurückkehren. Bist du damit einverstanden?“
Ob sie damit einverstanden sei? Natürlich war sie das! Eine gute Tat pro Tag, ein lächerlicher Preis. Sie sagte zu, und schon am nächsten Tag stand der Besen vor ihrer Tür, und sie flog mit dem Besen in die Schule.
Eine Weile ging es auch ganz gut, und jeden Tag bezahlte sie für den Besen mit einer guten Tat. Doch Sahra wurde älter, aus dem Kind wurde eine Jugendliche, und mit der Zeit nahm sie den Besen für selbstverständlich. Und so, eines schöne Tages, vergaß sie auch die gute Tat, und der Besen verschwand auf nimmerwiedersehen im blauen Himmel.
Aber es machte Sahra fast nichts aus, denn sie hatte ja gestern den Mopedfürerschein gemacht, und wer braucht schon einen fliegenden Besen, wenn er ein Moped hat???

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Die beiden Dioskuren

Zu den schönsten Frauen des Altertums gehörte Leda, Gattin des Spartanerkönigs Tyndareos, dem sie zuerst Klytaimnestra gebar, jene später ruchlose Königin, die ihren Gemahl Agamemnon ermordete. Leda war so schön, dass sie selbst den Göttervater Zeus entflammte. In der Gestalt eines schneeweißen Schwanes ließ der Hohe sich vom Himmel in das Gemach der Königin hernieder, um ihr in heiligem Zwiegespräch seine Liebe zu gestehen. Wie wogendes, schwebendes Gold erfüllte das Licht, das von dem Schwane ausging, den Raum, und als Leda bald darauf dem Tyndareos Drillinge schenkte – die Knaben Kastor und Polydeukes und das Mädchen Helena, um dessentwillen später der Troische Krieg ausbrach -, da erkannten die Seher am Königshofe, dass Polydeukes vom Sonnengeiste des Zeus erfüllt und somit unsterblich war. Er glich jedoch seinem sterblichen Bruder Kastor in allen Dingen so völlig, dass man beide allgemein die Dioskuren nannte, die „Zeussöhne“. Kastor wurde ein berühmter Rossebändiger, Polydeukes ein unbesieglicher Faustkämpfer. Das Brüderpaar war unzertrennlich, niemals ließ einer den anderen auch nur eine Stunde allein, so sehr liebten sie einander, und alle ihre Heldentaten, die ihnen unsterblichen Ruhm eintrugen, vollführten sie gemeinsam. Sie nahmen als Iasons Gefährten am Argonautenzuge teil; auf ihren windschnellen, schneeweißen Pferden beteiligten sie sich an der Jagd auf den Kalydonischen Eber, und als eines Tages Theseus, der Athenerkönig, ihre heißgeliebte Schwester Helena entführte, befreiten die Brüder das Mädchen aus der für uneinnehmbar geltenden Burg, in welcher Theseus seine schöne Beute gefangenhielt. Die gewaltigsten Heldentaten aber verbrachten sie mit Lynkeus und Idas, den Söhnen des Königs Aphareus von Messenien, des Schwagers ihres Vaters. Lynkeus, das „Luchsauge“, konnte durch Holz und Stein, durch einen Baum genauso wie durch einen Felsen, ja durch die Erde bis in die Unterwelt blicken, während sein Bruder Idas so stark und kühn war, dass er mitunter sogar den ewigen Göttern ungestraft trotzen durfte. Anfangs verband die beiden Dioskuren mit diesen Vettern die innigste Freundschaft, die jedoch bald in den schrecklichsten Hass umschlug. Sie hatten nämlich eines Tages in Arkadien zu viert eine prachtvolle Rinderherde geraubt und wollten sie untereinander teilen. Da sie sich nicht einigen konnten, beschlossen sie, die Sache durch ein Wettessen zu entscheiden, schlachteten einen Stier, brieten ihn am Spieß, zerlegten ihn in vier ganz gleiche Teile und bestimmten, dass jener, der seinen Teil als erster aufgezehrt habe, die Hälfte der schönen Herde bekäme, während dem zweiten Sieger die andere Hälfte gehören sollte. Auf ein Zeichen begannen die Brüderpaare mit dem gewaltigen Schmaus, doch erwies sich Idas als ein so tüchtiger Esser, dass er längst vor den anderen fertig war und nun auch seinem Bruder Lynkeus helfen konnte. Alsbald war auch dessen Teil verspeist, und mit Triumphgelächter trieben die beiden Aphariden, wie man sie die Söhne des Königs Aphareus – auch nannte, die herrliche Beute heimwärts in ihres Vaters Stall. Aus Wut darüber, dass sie mit leeren Händen zurückgeblieben waren, fielen die Dioskuren bald hernach in Messenien ein und raubten in einem unbewachten Augenblick die Bräute der Apharidert, die Töchter ihres Vaterbruders Leukippos, die in ihrer Burg auf den Tag der Hochzeit warteten. Sie versteckten beide Mädchen an einem sicheren Ort und krochen dann selbst in einen hohlen Eichbaum. „Hier wollen wir ausharren“, sagten sie zueinander, „und wenn Idas und Lynkeus des Weges kommen – sie werden uns überall suchen -, so brechen wir jählings hervor und machen sie nieder!“ Der Raub der Bräute war bald entdeckt. Zornig schwang sich Lynkeus auf den höchsten Gipfel des Taygeton und durchspähte mit seinen scharfen Augen die ganze Peloponnes; nichts blieb ihm verborgen, durch Fels und Holz drang sein Blick bis an die Küste des Meeres, und schon nach kurzer Zeit hatte er die Dioskuren in ihrer hohlen Eiche entdeckt. „Da sitzen die Buben im Stamm und wähnen, uns täuschen zu können!“ rief er seinem Bruder Idas zu. „Auf, lass uns hinschleichen und sie mit der Wurflanze aus dem Neste stöbern!“ Idas packte seinen mächtigen Speer und schlich, von Lynkeus geleitet, durch Täler und Wälder. Als sie vor der Eiche angelangt waren, hob er die Waffe und schleuderte sie mit aller Kraft in den Stamm. Grässlich schrie Kastor auf, die furchtbare Spitze hatte ihm die Brust durchbohrt, blutüberströmt sank er in sich zusammen. Rasend vor Rachegier verließ Polydeukes den Baum und stürzte sich mit Eberstärke auf die Feinde. So wuchtig drang er auf sie ein, dass ihm die Aphariden alsbald den Rücken kehrten und in wilder Flucht davonstoben bis zum Grabe ihres Vaters: des Toten Geist sollte ihre Kräfte mehren. Als Polydeukes sie einholte, riss Idas den Grabstein aus dem Boden und schleuderte ihn dem verwaisten Dioskuren an die Brust, aber der unsterbliche Zeussohn stand unerschüttert. Dann rannte er dem Lynkeus die Lanze in die Weichen. „Erlisch, verfluchtes Späherauge“, rief er. „Und nun zu dir, Mörder meines Bruders!“ Damit wandte er sich von dem Sterbenden ab und stürzte auf Idas zu, auch dessen Seele zum Hades zu schicken. Es war ein grauenhafter Kampf, der da begann, nur mit äußerster Mühe konnte Polydeukes dem Gegner standhalten. Doch als dieser gerade wieder einen riesigen Felsblock aufhob, um ihn Polydeukes ans Haupt zu schmettern, griff Zeus selbst in das Ringen ein: er sandte seinem Sohne einen Blitz zu Hilfe, der flammend niedersauste und den sterblichen Idas im Nu zu schwarzem Staub verbrannte. Als finstere Wolke schwebte er eine Weile über dem Kampfplatz, verzog sich allmählich und entschwand bald völlig. Nun eilte Polydeukes, nachdem er ein dankbares Stoßgebet zum Olympos emporegesandt hatte, zu jenem Eichbaum zurück, wo er Kastor noch nicht tot, aber mit Thanatos, dem Todesengel, ringend fand. Da stürzte er neben dem Röchelnden nieder, umschlang den zuckenden Leib und flehte zu Zeus: „Oh Vater, der du in ewiger Heiterkeit über den Wolken thronst, wie soll ich weiterleben ohne das Liebste, das ich habe? Nimm die Unsterblichkeit von mir und lass mich mit Kastor vereint zum Hades niedersteigen!“ „Deine Unsterblichkeit kann ich dir nicht nehmen, denn du bist mein Sohn“, sprach Zeus, auf goldenem Strahle herniederschwebend , „auch kann ich sie Kastor, dem Sohne eines Sterblichen, nicht verleihen. Doch stelle ich es dir frei, fortab als Gott unter Göttern in ewiger Jugend die Höhe des Olympos zu bewohnen oder abwechselnd an deines Bruders Seite einen Tag bei den Schatten, den anderen im Himmel zu verbringen. Willst du dieses, so werde ich Kastor mit neuem Augenlicht und neuer Stimme begaben und seine Wunden heilen.“ Freudig entschied sich Polydeukes für die zweite Möglichkeit, und Zeus erweckte Kastor zu neuem Dasein. Eng umschlungen und glücklich versanken die Brüder ins Reich des Todes, am nächsten Tage aber stiegen sie ins Reich des Lichtes auf, und so fort durch alle Zeiten, ein herrliches Bild unwandelbarer Bruderliebe, im Tode genauso unzertrennlich wie im Leben. Als leuchtendes Doppelgestirn sahen die Menschen Kastor und Polydeukes über den nächtlichen Himmel wandern. Und geriet ein Schiff in Seenot, so riefen die Matrosen die Dioskuren zu Hilfe, und sie schwebten über das von Gewittern aufgewühlte Meer herzu, erschienen den flehenden Männern in einem milden bläulichen Geisterlichte, das die Segelmaste umflackerte, und brachten das Fahrzeug ohne Schaden in den sicheren Hafen. In Seestädten verehrte man das Brüderpaar darum ganz besonders, stellte sich gerne unter seinen Schutz und Schirm. Das flackernde Licht um die Maste aber heißt in der Seemannssprache von heute Sankt-Elms-Feuer.

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Das Ross der Hexe

Ein recht magerer Junge diente bei einem Bauern. Da sprach einmal ein sehr wohlgenährter Schmiedgeselle zu ihm. „Warum bist doch so mager? Ich bin doch so fett!“ Der Junge antwortete: “ Wenn du es auch so schlecht hättest wie ich, so würdest du gewiss auch mager sein. Jedesmal, wenn ich abends schlafen gehe wirft mit die Bäuerin eine Zaum über den Kopf, und ich werde ein Pferd. Dann reitet sie auf mir fort. Dabei spricht sie jedesmal „Oben naus und nirgends an!“ und sie reitet auf den Hexenplan wo die Hexen miteinander tanzen.“

„Ha!“, sprach der Schmiedgeselle, „da lege dich einmal in mein Bett, und ich werde mich in das deinige legen. Und wenn dann die Frau zu mir kommt, will ich ihr den Zaum entwinden und ihr über den Kopf werfen.“ Gesagt getan, es gelang dem Schmiedgesellen, der Frau den Zaum zu entwinden und mit dem Rufe “ Oben naus und überall an!“ ritt er, nachdem er sie noch bereit gehaltenen Hufeisen beschlagen hatte, auf den Hexenplan, er als Hexe, sie als Pferd.
Während sie nun dahintrabte, stieß sie an alle im Wege liegenden Hindernisse, so dass an ihrem Körper kein heiler Fleck zu finden war.
Am Hexenplan angekommen, wurde er von allen Hexen für ihresgleichen gehalten, und das Pferd blieb unbeachtet. Die Hexen tummelten sich in wilden Tänzen, zuletzt fingen sie in trunkener Lust an miteinander zu fechten und heulten dabei den Spruch:

Ich hau ein Wunde
die heilt in einer Stunde

Der Schmiede focht als Hexe fleißig mit, sprach aber bei jedem Hiebe die Worte:

Ich hau eine Wunde
die heilt zu keiner Stunde.

Dadurch kamen die Hexen mit ihm in Streit und er fand es endlich für gut, nach Hause zu ziehen. Am anderen Morgen kam die Bäuerin nicht aus dem Schlafgemache, es verging der ganze Tag, ohne dass sie aufstand. Da sahen die Hausgenossen nach und nun zeigte sich´s, dass sie ein Hexe war. denn an ihren Händen und Füßen waren noch die Hufeisen befestigt.

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Orpheus und Eurydike

Lange ehe der große griechische Dichter Homeros die Menschen mit seinem Gesang entzückte, durchdrang Orpheus mit göttlichem Liede die Welt. Sein Vater war der Flussgott Oiagros, der zu jenen fernen Zeiten als König über die Landschaft Thrakien gebot, seine Mutter war Kalliope, die Muse des Heldengedichtes. Weil aber die Himmelsmusik Apollons, deren Tönen die Schöpfung in all ihrer Vielfalt ordnet und belebt, schon aus dem Munde des Knaben strömte, nannte man ihn kurzweg einen Sohn des Lichtgottes und erzählte sich allgemein, Orpheus habe seine goldene Leier aus Apollons eigenen Händen empfangen. Wenn er sang, flogen die Vögel aus Wald und Feld herbei, nahten die wildesten Tiere friedlich und legten sich ihm zu Füßen, floss das Wasser der Bäche herzu und brachte die Fische vor ihn; ja Felsen und Bäume wanderten, wie mit Füßen begabt, einher, seinem Liede zu lauschen. Orpheus‘ Gemahlin war Eurydike, eine Nymphe von großem Liebreiz. In keines Bergquells Wasser spiegelte sich des Sonnenhimmels Licht so rein, so ungetrübt wie in Eurydikes Auge, wie auf Eurydikes holdseligem Antlitz. Innigste Liebe verband die beiden Gatten miteinander, doch eines Tages wurden sie durch ein grausames Schicksal getrennt. Eurydike wandelte mit ihren Gespielinnen, lieblichen Baum und Quellnymphen, über eine Wiese; plötzlich schoss eine giftige Natter aus dem Grase hervor und biss die Schreitende in die rosige Ferse. Mit einem Seufzer sank Eurydike zu Boden, ihre erschrockenen Freundinnen bemühten sich um sie, aber es war vergebens: ihre Seele weilte bereits im Reiche der Schatten. Orpheus war untröstlich. Was war das Klagen und Weinen der Nymphen, die in Tälern und auf Bergen um Eurydike trauerten,‘ gegen die Schmerzenstöne aus der Brust des Sängers! Aber nicht wilde Schreie oder irres, zerrissenes Gestammel kamen über seine Lippen, sondern Lieder der Wehmut, denen Stein und Pflanze und Getier ebenso teilnahmsvoll lauschten, wie sie seinen Freudengesängen, seinen Liebesliedern und den Hymnen auf Götter und Helden gelauscht. Die Vöglein in den Wipfeln und das Reh im Waldesgrund kamen herzu und trauerten mit ihm, Löwe und Tiger weinten beim Klang seiner Leier, Steine zersprangen, und der Wasserfall erstarrte vor Weh, als hätte der grausige Winterfrost ihn gebannt. Doch vergeblich durchirrte Orpheus Thrakiens Berge und Täler, vergeblich rührte er die ganze Natur mit seinem Klagelied – die Geliebte kehrte nicht wieder. Da entschloss er sich, lebend hinabzusteigen ins öde Reich der Schatten und Eurydike Freizubitten. Er wanderte also nach Lakonien zum Berge Tainaros, wo sich einer der Eingänge in die Unterwelt befand, und stieg mutig hinab. Der Hall seines Schrittes erstarb, Finsternis umgab ihn, graue Schatten umschwebten ihn, es war ihm, als sei er selbst schon einer von ihnen. Aber die Toten erkannten ihn sogleich als einen, der noch der Oberwelt gehörte, und umdrängten ihn sehnsüchtig: seine goldene Leier, Apollons Geschenk, leuchtete wie die Sonne und wärmte die Frierenden. Mitten durch die Schrecknisse des Tartaros bewegte Orpheus sich auf den Doppelthron zu, auf welchem Hades und Persephone saßen, denen die Seelen der Abgeschiedenen untertan waren. Vor dem düsteren Herrscherpaare angelangt, griff der kühne Thrakier in die heiligen Saiten und sang dazu:
„Herakles wagte die Fahrt zum Tor der Hölle, vertrauend
einzig der Kraft seines Arms mich schirmte die Macht meiner Liebe,
lenkte auf grausiger Bahn das Licht der Leier Apollons.
Lausche nun, Abgrund voll Nacht, zum erstenmal himmlischen Tönen!
Öffne das steinerne Ohr dem Klange menschlicher Klage!
Sehnsucht zerbricht mir das Herz. 0 Fürst über Tote und Frevler:
Die sich in strahlender Blüte der Jugend mir bräutlich verbunden,
hast du mir neidisch geraubt, und weinend durchirr‘ ich die Länder.
Schuldlos war sie und rein, o Fürstin, lass dich erweichen:
Da es den Menschen doch ziert, darf Mitleid bei Göttern nicht wohnen?

Ihr, die ihr tränenlos thront inmitten kreisender Seelen,
seht mich verzweifelt vor euch, o gebt mir zurück die Geliebte!
Wenige Tage nur war sie das Glück und der Stolz meines Hauses,
ehe mit giftigem Zahn sie der tückische Wurm mir entrissen.
Ach, nun ist mir ein Gram die Erde, des Himmels Gestirne
leuchten dem Wanderer nicht, der Eurydike verloren.
Gebt sie mir wieder, o schenkt des Leibes atmendes Leben
ihr, der Geliebten, aufs neu – oder rufet mich selbst zu den Schatten!“

Da lauschten und weinten selbst die Toten, und jene, die eine grausame Strafe abzubüßen hatten, hielten in ihrem quälenden Tun inne, solange Orpheus sang, und träumten für eine kurze Weile vom Licht der Oberwelt und den Wonnen der Liebe. Ja, Hades und Persephone waren von Mitleid bewegt und riefen Eurydikes Schatten herbei. „Führe sie mit dir fort“, sagten sie, „zu neuem Erdenleben wird sie erblühen, sobald du sie über die Schwelle des Totenreiches geleitet haben wirst. Doch wisse: Sie ist dir auf immer verloren, blickst du dich schon vorher auch nur ein einziges Mal nach ihr um. Nun wende dich hinan, Eurydike wird dir getreulich folgen.“ Mit raschen, lautlosen Schritten eilten die beiden Glücklichen der Oberwelt entgegen. Tiefes Schweigen umfing den Lebenden wie auch Eurydike, deren Schatten ihm mit gekreuzten Armen schwebend folgte. Schon näherten sie sich der Schwelle, schon vernahmen sie das Knurren des Höllenhundes, den des Orpheus goldene Leier mit ihrem Strahlen in Bann hielt, schon begann es ob ihren Häuptern zu grauen – da übermannte den Sänger die Sehnsucht nach seinem geliebten Weibe, und er blickte sich um, nicht länger, als der Schlag des Augenlides währt, aber es genügte, um all sein Glück aufs neue zu zerstören. Mit einem schmerzlichen „Lebe wohl, Geliebter“ sank Eurydikes Schatten in die graue Tiefe zurück. Ein weher Blick noch, und sie war verschwunden. Halb rasend vor Schmerz, wollte Orpheus noch einmal in den Tartaros vor Hades‘ Thron, aber diesmal weigerte sich Charon, der raue Totenfährmann, ihn über die Styx zu rudern. Sieben Tage und sieben Nächte weilte Orpheus verzweifelt am Ufer des Flusses, Klagerufe und Bitten über das schwarze Wasser hinübersendend, aber es kam weder Echo noch Antwort. Ein zweites Mal lassen die unterirdischen Götter sich nicht erweichen. Allein kehrte Orpheus ans Tageslicht zurück, einsam durchstreifte er die Fluren und Wälder Thrakiens, drei Jahre lang. Er mied die Menschen, sonderlich die Frauen, denn wie sollte er, dessen ganzes Wesen nur Eurydike gehörte, sich je einer anderen vermählen? Wohl begann er wieder zu singen, zur Freude von Stein, Pflanze und Tier, aber es waren Lieder der Wehmut, und alle besangen die Sehnsucht nach dem Tode, der Orpheus wiederum mit Eurydike vereinen würde. So saß er denn auch eines Tages auf einem Hügel, rührte die Saiten und sang. Da hörte ihn ein Schwarm weintrunkener Bacchantinnen, die dem Gotte Dionysos tanzend und johlend opferten. Sie stürmten herzu, und als sie den einsamen Sänger erblickten, gerieten sie in Raserei. „Seht, dort sitzt er, der uns vergaß, und klimpert und singt ein Totenlied, er, der die Liebe verachtet und dem Gotte des Weinstocks nicht huldigt! Verhöhnt er nicht Dionysos, unseren befeuernden Gebieter? Erschlagt ihn, den Frauenfeind!“ Und sie erklommen keuchend den Hügel und erschlugen den friedlichen Sänger mit Steinen und mit ihren Thyrosstäben. Dann zerrissen sie seine Glieder und schleuderten sie umher. Als die Mörderinnen sich entfernten, kamen die Vögel und Rehe, die Hirsche und die Wildschweine, die Löwen und Tiger, ja der Wald und die Felsen herbei und bestatteten gemeinsam mit den trauernden Nymphen der Bäume und Bäche ihren geliebten Sänger. Ihre Tränen benetzten die blutenden, verstümmelten Glieder, ehe sie sie in der Erde begruben; das Haupt und die Leier aber nahm der Flussgott Hebros an sich und trug sie auf seiner Flut bis ins Meer, dessen Wellen die beiden Kleinode an die Küste der Insel Lesbos trugen, die Heimat der großen griechischen Dichterin Sappho. Dieses Eiland galt fortan als das Grab des Orpheus, dessen Seele im Hades weilt, mit Eurydikes geliebtem Schatten auf immer vereint. So wird die Sage von Orpheus von den einen erzählt und beendet; andere berichten, des Sängers Zunge habe noch auf den Meereswellen süß und köstlich gelallt, und die verwaiste Leier habe von selbst sanft geklungen, bis die unsterblichen Götter sie aufnahmen und als blitzendes Sternenbild an den Himmel versetzten.

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Der Monolith

Es war ein kalter, grauer Novembermorgen. Schon oft stand ich vor dem kleinen unscheinbaren Laden, bestaunte die urzeitlichen Gesteine, Minerale und Fossilien aus fremden Zeiten und Ländern. Heute, so wußte ich, werde ich mich entscheiden müssen! – Ich wollte ihn schon immer, jenen etwas milchigen Bergkristall.

Die Entscheidung war gefallen! Ich betrat den kleinen Laden und ließ ihn mir vorführen.

„Das ist ein schöner Bergkristall!“.

Der hagere Mann hinter dem Ladentisch zögerte etwas, dann entgegnete er mir: „Ja! Und das Schlimmste ist, wir können noch nicht einmal beweisen ob er lebt!“.

Diese Antwort hatte mich etwas verwirrt! Hinter einem weinroten schweren Vorhang, plüschig und verstaubt, drang eine Frauenstimme in den Verkaufsraum:

„Was unterscheidet uns von einem Tier? – Gibt es überhaupt einen Unterschied?“. Meine gesamte Konzentration richtete sich auf einen schmalen Spalt im Vorhang. Die Frau, vielleicht Mitte sechzig, weißhaarig und von guter Statur, trat nun hinter dem verstaubten weinroten Vorhang hervor und setzte fort: „Der Mensch sagt immer, er sei das intelligenteste Wesen auf Erden! – Aber was ist daß für eine Intelligenz? Wenn der Mensch wirklich so intelligent ist, warum denkt er denn immer nur daran, wie er sich und alles mit ihm zerstören kann? – Warum denkt er nicht darüber nach, wie er und seine Umwelt überleben könnte? – Tiere töten nur aus Angst oder zur Nahrungsaufnahme, zum Überleben! Und doch, der Mensch, die Katze die mit der Beute spielt!“.

Ich fühlte mich unwohl und schwieg. Der hagere Mann hinter dem Ladentisch setzte fort:

„Seit der WöhlerŽschen Harnstoffsynthese gibt es keinen Unterschied zwischen organisch und anorganisch! – Ich glaube es gibt viel intelligenteres Leben, als Menschen es sind. Nehmen wir zum Beispiel diesen Bergkristall! Er ist nahezu vollkommen und anspruchslos, und wir können noch nicht einmal beweisen ob er lebt!“.

„Niemand kann beweisen daß er lebt!“: entgegnete die weißhaarige Frau, welche sich, ohne daß ich es bemerkt hatte, wieder hinter dem staubig, plüschig, weinroten Vorhang zurückgezogen hatte: „Wenn ich Dich berühre, wer sagt mir daß es kein Alptraum ist? Daß ich nur geglaubt habe, Dich zu berühren?“.

Plötzlich spürte ich ein unbekanntes Verlangen, eine Kraft, welche mich zum Überlegen und zu einer Antwort zwang:

„Zwei, drei, neun!“. Der Vorhang preschte zur Seite! Gab den Blick frei auf unzählige Kisten und Kartone, und Berge von altem Zeitungspapier. Der Staub tanzte im fahlen Licht der Sonne, daß sich nur mühsam durch das schmale Fenster am Ende des Raumes zwang.

„Zwei, drei, neun!“: wiederholte ich: „Das sind zum einen Teil nur Zahlenwerte, vielleicht einer Variablen, somit austauschbar! – Zum anderen Teil jedoch eine Ordnungszahl. Zahlenwerte, Variable, Ordnungszahlen, sind von Menschenhand geschaffen. Wie der Mensch mit dieser Ordnungszahl umgeht, zeugt jedoch von völligem Schwachsinn! – Trotzdem, es steckt eine Intelligenz hinter diesen Dingen.“. – Ich nahm meinen Bergkristall und bezahlte.

Noch immer klingt es mir in den Ohren:

„Das ist ein schöner Bergkristall!“

„Ja! Und das Schlimmste ist, wir können noch nicht einmal beweisen ob er lebt!“.

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Die Irrfahrt des Odysseus 4

Die Freier belustigten sich indessen auf dem Platz vor dem Palast wie gewöhnlich mit Diskuswerfen und Speerschleudern, bis sie der Herold an das Mittagmahl erinnerte. Da verließen sie die „geebnete Tenne“, wie im alten Liede der festgestampfte Lehmboden im Hofe vor dem Königshause genannt wird, und traten in den Saal. Sie warfen ihre Mäntel über Sessel und Stühle, schlachteten fette Schafe und Ziegen, einen Ochsen dazu und ein paar gemästete Schweine, und rüsteten das Mahl. Unterdessen hatten sich Odysseus und Eumaios auf den Weg gemacht. Sie hatten das Gehöft den Knechten und den Hunden zur Bewachung überlassen. Nach gemächlicher Wanderung gelangten sie an den Brunnen nahe der Stadt, den einer von Odysseus‘ Ahnen dort hatte errichten lassen. Der Ort war den Nymphen geweiht. Rings um ihn her war ein Pappelhain gepflanzt, und auf der Anhöhe, wo die Quelle entsprang, stand ein Altar. Hier pflegten Ithakas Bürger ihr Wasser zu holen und den Nymphen zu opfern, und hier trafen die beiden Wanderer mit dem Hirten Melanthios zusammen, der mit Hilfe zweier Knechte die besten Ziegen seiner Herde in die Stadt trieb, den Freiem zum Schmaus. Als Melanthios das Paar erblickte, fing er laut zu schimpfen an: „Ei, seht doch, ein Taugenichts führt den andern! Ja, gleich und gleich gesellt sich gern. Wohin führst du den heißhungrigen Bettler, verdammter Sauhirt? Gib ihn mir als Hüter meines Geheges oder als Stallputzer, da kann er Ziegenmilch saufen nach Herzenslust und das Fleisch um seine dürren Lenden wieder wachsen sehen! Aber freilich, er wird lieber an den Türpfosten stehen und um Brocken betteln, sich den gefräßigen Wanst zu füllen, sonst versteht er ja nichts, der arbeitsscheue Müßiggänger!“ So rief er und gab dem Dulder einen Fußtritt in die Hüfte. Odysseus verbiss den Schmerz und schluckte die Schmach hinunter. Eumaios aber wendete sich gegen den Altar über der Quelle und sprach: „Ihr heiligen Nymphen, Töchter des Zeus, die ihr diesen Ort umschwebt, gewähret dem Helden Odysseus heimzukehren, damit er diesen Frevler bestrafe!“ „Du Hund!“ schrie Melanthios, „dich sollte man als Sklave auf den Inseln verkaufen! Und deinen Telemachos treffe der Bogen Apollons oder der Dolch der Freier, damit er endlich umkomme wie sein Vater!“ Mit solchen Scheltworten ging er an ihnen vorbei in den Palast und setzte sich mitten unter die Freier; die sahen ihn gerne und gaben ihm von ihrem Schmause stets etwas ab. Jetzt kamen auch Odysseus und der Sauhirt vor den Königspalast, und als jener nach so langer Zeit sein Haus wieder erblickte, langte er ergriffen nach der Hand seines Begleiters und sprach: „O Eumaios, das muss fürwahr die Wohnung des Odysseus sein! Sieh nur, wie gut der Vorhof von breiten Mauern und Zinnen umschlossen ist, und welch mächtige Torflügel den Eingang beschützen! Diese Burg ist gewiss unbezwinglich. Doch horch, welch fröhliches Lärmen dringt aus dem Saal? Viele Männer, dünkt mich, feiern da drinnen ein Gastmahl; köstlicher Bratenduft weht bis hierher, vermischt mit den Harfenklängen des Sängers.“ Sie vereinbarten, dass Eumaios vorangehen und im Saal einen Platz für den Bettler auskundschaften sollte. Odysseus würde eine Weile später nachkommen. Neben dem Hoftor lag auf dem Düngerhaufen ein alter Hund, der auf den Namen Argos hörte. Odysseus hatte ihn, ehe er sich nach Troia einschiffte, noch selbst aufgezogen. Er war einst ein guter Spürhund gewesen, hatte die Männer auf die Jagd begleitet und manches Stück Wild im Dickicht aufgestöbert und gestellt. Jetzt kümmerte sich keiner mehr um ihn, von Ungeziefer bedeckt, lag er auf dem Mist. Als er jedoch die Stimme des Odysseus hörte, spitzte er die Ohren und hob mühsam die Schnauze; ihn täuschte keine Verwandlung, nach zwanzig Jahren erkannte er seinen Herrn wieder, doch war er zu schwach, um näher zu kommen. Er wedelte noch stumm mit dem Schweif, dann sank ihm das Haupt auf die Pfoten, und er verendete. Mit Tränen in den Augen beugte sich Odysseus über ihn. Eumaios hatte den Palast betreten. Sogleich rief Telemachos ihn zu sich. Der Sauhirt blickte sich vorsichtig um, ergriff dann den leeren Stuhl des Fleischzerlegers, auf welchem dieser vor dem Mahle zu sitzen pflegte, und setzte sich seinem jungen Herrn gegenüber an den Tisch. Man reichte ihm Brot und Fleisch. Bald darauf wankte auch Odysseus, der Bettler, an seinem Stabe in den Saal. Auf der Schwelle aus Eschenholz ließ er sich nieder und lehnte den müden Rücken gegen den Türpfosten, der war aus einem kunstvoll geschnitzten Zypressenstamm. Sogleich nahte ihm, allen anderen unsichtbar, Pallas Athene, die hohe Zeustochter, und sprach: „Erbettle dir Nahrung von den Freiem, so kannst du die Bessergesinnten von den Bösewichtern unterscheiden und später jedem den Tod zuteilen, den er verdient, diesem einen grausamen, jenem einen milden. Doch sterben müssen sie alle!“ So ging denn Odysseus mit ausgestreckter Hand von einem zum andern, wie Bettler tun. Mancher zeigte sich mitleidig und gab ihm etwas, und es entstand ein Gefrage unter den Freiem: „Wer ist der Mann? Wo kommt er her?“ Da erhob sich Melanthios, der treulose Ziegenhirt, und rief: „Ich traf den Burschen zuvor am Brunnen, der Sauhirt hat ihn vom Gebirge herabgeführt!“ Heftig fuhr Antinoos auf Eumaios los und schrie ihn an: „Verfluchter Sauhirt, haben wir in der Stadt nicht schon genug Landstreicher? Was musst du uns auch noch diesen Fresser in den Saal schleppen?“ Gelassen blickte Eumaios auf und sagte: „Du bist ein harter Mann, Antinoos. Den Seher, den Arzt, den Baumeister, den Sänger, der uns mit seinen Liedern erfreut, sie alle beruft man gerne in die Paläste der Großen – den Bettler lädt niemand ein, er kommt von selbst, aber man jagt ihn auch nicht hinaus.“ Weiß vor Wut über die gütige Rede des Sauhirten erhob sich Antinoos von seinem Sitz und rief: „So will ich diesen da beschenken, dass er drei Monate lang das Haus nicht wieder betritt!“ Damit packte er seinen Fußschemel und schleuderte ihn dem Odysseus nach, der sich gerade wieder von den Tischen zu seinem Platz auf der Schwelle zurückzog. Das Holz traf ihn mit Wucht an dem Schulter, doch Odysseus stand unerschütterlich wie ein Fels. Schweigend schüttelte er sein Haupt und sann auf Rache. Er setzte sich hin, legte den mit Gaben gefüllten Ranzen neben sich auf den Boden und erhob Klage über die Kränkung, die ihm Antinoos zugefügt. Dieser aber rief dem Bettler zu: „Schweig endlich und friss, oder packe dich, sonst lasse ich dich an Hand und Fuß über die Schwelle schleifen, dass dir die Glieder bluten!“ Diese Rohheit empörte selbst die Freier, und einer von ihnen sprach: „Du tust nicht wohl, Antinoos, diesen Unglücklichen zu misshandeln. Wie, wenn er ein Himmelsbote in Menschengestalt wäre? Bisweilen verhüllen die Götter sich so.“ Aber Antinoos schlug diese Warnung höhnisch in den Wind. In ihrem Frauengemach saß Penelope, die Königin. Sie hörte alles, was im Saale vorging. Sie empfand Mitleid mit dem Bettler und schickte eine ihrer Dienerinnen zu Eumaios. „Bring mir den Sauhirten hierher“, befahl sie. Als Eumaios freudigen Herzens bei ihr eintrat, sagte sie zu ihm: „Führe mir doch diesen Bettler herbei, ich will mit ihm reden. Vielleicht weiß er etwas von meinem fernen Gemahl zu berichten oder hat ihn gar selbst gesehen. Es scheint, er ist weit in der Welt herumgewandert.“ „O Herrin“, erwiderte Eumaios, „drei Tage und drei Nächte lang hat der Alte mit seinen Erzählungen mein Herz gerührt. Ja, er weiß viel von Odysseus zu sagen und prophezeit des Königs baldige Heimkehr!“ „So bringe mir den Fremdling schnell“, rief Penelope. „Käme Odysseus zurück, wie würden er und Telemachos die Freier bestrafen!“ Eumaios begab sich wieder in den Saal, trat an den Bettler heran und überbrachte ihm Penelopes Botschaft. Der Fremde antwortete: „Gerne will ich der Königin erzählen, was ich von Odysseus weiß, und ich weiß gar viel von ihm. Aber noch fürchte ich mich vor den Freiem. Niemand hat sich meiner angenommen, als ich eben so schwer gekränkt ward, auch Telemachos, des Hauses Sohn, hat keinen Finger für mich gerührt – wie sollte ich wagen, ins Frauengemach einzudringen? Sage darum Penelope, sie möge sich gedulden, bis es Nacht geworden ist; dann mag sie mich nach ihrem Gatten befragen, soviel sie will, und mich an ihrem Herde sitzen lassen, denn mich friert in meinen Lumpen.“ Eumaios eilte zurück zur Königin und meldete ihr die Worte des Bettlers. „Der Mann denkt und redet klug“, sagte Penelope und gab sich zufrieden. Sie entließ den Hirten, der auf Telemachos‘ Geheiß noch bis zum Abend im Saale blieb. Dann brach er auf und versprach dem Königssohn, sich am anderen Morgen in aller Frühe bei ihm einzufinden. Die Freier zechten weiter. Da betrat auf einmal ein berüchtigter Bettler den Saal. Er hieß eigentlich Arneios, doch nannte ihn jedermann nur Iros, den „Boten“, weil er für Geld allerlei Wege machte. Er war ein ungeheurer Vielfrass, aber dennoch ohne alle Leibeskraft. Er hatte gehört, dass ein Nebenbuhler bei den Freiem eingedrungen und von Tisch zu Tisch gegangen war. Nun kam er, schnaubend vor Eifersucht, herbei und wollte den Odysseus aus dessen eigenem Hause vertreiben. „Hinweg von der Türe!“ rief er schon beim Eintreten. „Siehst du nicht, dass mir alle mit den Augen zuwinken, dich am Fuß hinauszuschleifen? Geh, oder es entbrennt ein Faustkampf zwischen uns!“ „Die Schwelle hat Raum für uns beide“, erwiderte Odysseus finster. „Ich gönne dir deinen Teil, also gönne du mir den meinen, wie es unter Bettlern Brauch ist. Reize meinen Zorn nicht und fordere mich auch nicht zum Zweikampf, sonst schlage ich dir Brust und Rippen blutig, und du kommst schwerlich noch einmal hieher!“ Iros aber fing noch ärger zu poltern an. „Du blöder Fresser“, rief er, „redest daher wie ein Hökerweib! Ein paar Hiebe von mir links und rechts auf deinen Schädel, und dir fallen alle Zähne aus dem stinkenden Maul. Laut lachend kehrten sich die Freier dem streitenden Paare zu, und Antinoos rief: „Noch hat uns kein Gott ein solches Vergnügen in diesem Saale beschert – zwei Bettler, die einander zum Faustkampf herausfordern, haha! Lasst uns die beiden aufhetzen! Ziegenmagen, mit Blut und Fett gefüllt, braten dort überm Feuer, die setzen wir den edlen Streitern als Kampfpreis aus: dem Sieger die dickste Wurst, und kein anderer Bettler als er soll künftig den Saal betreten dürfen!“ Den Freiem gefiel diese Rede. Odysseus aber stellte sich zaghaft, als wäre er ein vom Elend entkräfteter Greis. „Wenn sich keiner von euch zugunsten des Iros in unseren Kampf einmischt, so will ich mich wohl mit ihm schlagen, um die fette Wurst zu ergattern“, sagte er. „Schwört ihr?“ Da erhob sich Telemachos und sprach: „Kämpfe getrost mit diesem Prahler, armer Fremdling, und besiege ihn, wenn du’s vermagst. Ich bin der Hausherr, und wer sich an Iros‘ Seite stellt und dich verletzt, der hat es mit mir zu tun!“ Nun gürtete sich Odysseus zum Kampf. Unsichtbar waltete über ihm Pallas Athene, die Göttin, und sie verherrlichte seinen Wuchs. Jäh schwollen ihm unter den Lumpen Schenkel und Arme an, Schultern und Brust dehnten sich voll Kraft, und strahlend verjüngte sich sein Antlitz. Die Freier staunten. Iros aber wurde übel, er schlotterte und musste von den Dienern gewaltsam gegürtet werden. Man führte ihn hervor, und beide Bettler erhoben die Fäuste zum Kampf. Odysseus überlegte, ob er den Gegner gleich mit einem einzigen wuchtigen Streich töten oder nur mit einem sanften Schlage zu Boden strecken sollte, damit die Freier nicht vorzeitig Verdacht schöpften. Er entschloss sich für dieses, weil es ihm klüger schien, und nachdem ihn Iros mit der Faust an der rechten Schulter getroffen hatte, gab er ihm einen leichten Schlag auf den Hals unterhalb des Ohres. Doch war seine Kraft so groß, dass er ihm den Kieferknochen entzweibrach und das Blut dem Bettler aus dem Munde schoss. Schreiend stürzte Iros zu Boden, und während die Freier laut Beifall klatschten und unbändig lachten, zog ihn Odysseus am Fuße zur Türe hinaus in den Vorhof und lehnte ihn neben dem Haupttor an die Hofmauer. Er gab ihm den Stab in die Hand und sagte spottend: „Da bleibe du sitzen und verscheuche mit deinem Stecken Hunde und Ferkel!“ Dann kehrte er zum Saal zurück und ließ sich wieder auf der Schwelle nieder, als ob nichts geschehen wäre. Sein Sieg hatte den Freiem Achtung eingeflößt, sie umringten ihn lachend und sagten: „Du hast uns von einem lästigen Burschen befreit, da nimm den Ziegenmagen dafür, und mögen Zeus und alle Götter dir gnädig sein.“ Amphinomos, einer der jüngsten unter den Freiem, brachte zwei Brote herbei, füllte einen Becher mit Wein und trank dem Sieger zu mit den Worten: „Auf dein Wohl, fremder Vater! Mögest du künftig von aller Trübsal verschont bleiben!“ Da erhob sich Odysseus. Ernst nahm er die Brote und den Wein entgegen, und ernst sprach er: „Amphinomos, du scheinst mir besonnen und weise und bist eines edlen Vaters Kind. Darum höre, o Jüngling! Von allem, was auf Erden wandelt und atmet, ist nichts so eitel und unbeständig wie der Mensch. Solange die Götter ihn stärken, meint er, es könne ihn kein Unglück treffen. Ist er aber einmal auf sich gestellt und beladen ihn die Seligen mit Trübsal, dann verzweifelt er sogleich. Ich habe im Übermut glücklicher Tage, durch meine Stärke verleitet, viel gefrevelt, darum rate ich dir: Empfange die Gaben der Götter, lichte wie dunkle, voll Demut und sündige nicht wider Recht und Gesetz gleich den übrigen Freiem, die hier ihr Unwesen treiben. Sie fügen Schmach über Schmach der Gattin des Mannes zu, der vielleicht morgen schon heimkehrt. Er ist ganz nahe! Möge ein guter Dämon dich aus diesem Hause wegführen, ehe du ihm begegnest. Denn ich fürchte, es wird Blut fließen, wenn der Verschollene unter sein heiliges heimatliches Dach tritt.“ So sprach Odysseus, goss seine Spende aus, trank und gab den Becher dem Jüngling zurück. Nachdenklich senkte dieser das Haupt und schritt durch den Saal wieder zu seinem Sitz. Ihm ahnte Böses. Dennoch entrann er dem Verderben nicht, das Athene auch ihm bestimmt hatte. Athene, die Göttin, wich nicht mehr von Ithakas königlichem Haus. Jetzt eben erweckte sie in Penelopes Seele den Gedanken, wieder einmal vor den Freiem zu erscheinen und deren Herzen mit neuer Sehnsucht zu erfüllen. „Hole mir zwei Dienerinnen herbei“, sagte sie zu ihrer Vertrauten Eurynome, „sie sollen mich in den Saal begleiten, denn es ziemt sich nicht, dass ich allein vor den Männern erscheine.“ Eurynome entschwand. Während sie die Dienerinnen holte, versenkte Athene die Königin in Schlummer. Sanft ruhte Penelope im Sessel, und die Göttin goss überirdische Schönheit über sie aus. Mit ambrosischem Öl, mit dem Aphrodite sich salbt, wusch sie ihr Gesicht, gab der Haut den Schimmer des Elfenbeins und straffte ihre Gestalt. Dann entwich sie. Lärmend kamen die Mägde herein, Penelope erwachte, trat aus dem Gemach und schritt die Treppe hinab in den Saal. Auf der untersten Stufe blieb sie stehen, das Haupt von einem Schleier um444 hüllt, die liebreizenden Dienerinnen zur Linken und Rechten. Jedem der Freier, der sie so stehen sah, glühte das Herz, jeder wollte sie zur Gattin gewinnen. Sie aber wandte sich an Telemachos und sprach: „Mein lieber Sohn, warum hast du es geschehen lassen, dass man den armen Fremdling, der bei uns Hilfe suchte, so schwer beleidigte? Es bringt dir vor Göttern und Menschen Schande, mir aber bereitet es tiefen Schmerz.“ „Ach, Mutter“, entgegnete Telemachos, „du schiltst mich zu Recht, doch glaube mir, ich vermag nichts allein gegen die Übermütigen hier. Um so glücklicher bin ich, dass der Zweikampf des Fremdlings gegen Iros anders ausfiel, als die Freier es sich wünschten. Oh, hockten sie doch alle wie jener draußen im Hof mit zerschlagenem Kopf und gelähmten Gliedern!“ Eurymachos aber rief, trunken vom Anblick der Königin, aus: „O Tochter des Ikarios, könnten alle Griechen dich sehen, wahrhaftig, es kämen morgen noch viel mehr Freier zum Schmaus nach Ithaka, so sehr übertriffst du alle Frauen an Geist und Gestalt!“ Penelope schüttelte trübe das Haupt. „Ach, Eurymachos“, sprach sie, „meine Schönheit ist hin, seit mein Gemahl nach Troia fuhr. Käme er wieder, blühte ich auf wie die Blume an der Sonne; so aber umfängt mich die Nacht der Trauer. Wohl sagte mir Odysseus, da er aufbrach: Wenn ich nicht mehr zurückkehre und Telemachos ist zum Jüngling herangereift, so vermähle dich neu!‘ Ja, so sprach er, und ich will ihm gehorchen, doch sehe ich meiner Hochzeit mit Bangen entgegen. Andere Freier bringen aus ihrer Heimat Rinder und Schweine zum Schmaus herbei und geizen nicht mit Geschenken. Ihr aber verprasst das Gut der Braut! Wen von euch sollte sie da wählen?“ Voll inniger Freude hörte Odysseus diese klugen Worte. Sie hatten ihr Ziel nicht verfehlt, denn schon eilten die Diener der Freier hinweg und brachten auf Geheiß ihrer Herren die kostbarsten Geschenke herbei. Antinoos übergab Penelope ein reichgewirktes, buntes Frauengewand, Eurymachos ein Brustgeschmeide, das einer strahlenden Sonne glich und mit schimmerndem Bernstein besetzt war, Eurydamas anmutige Ohrgehänge, und so überreichte ihr jeder der Freier eine andere Gabe. Die Dienerinnen mussten Gehilfinnen herbeiwinken, weil ihre Hände die Fülle des Goldes und kostbaren Tuches nicht mehr halten konnten. Penelope aber sprach: „Gebt mir bis morgen Bedenkzeit, ich will die Geschenke alle prüfen und mich danach entscheiden.“ Hierauf stieg sie die Treppe zum Söller empor, gefolgt von den Dienerinnen mit den Schätzen. Nun wollten sich die Freier bei Tanz und Gesang belustigen und riefen nach Feuerbecken, um den Saal zu erleuchten. Mägde stellten die Gefäße auf, legten getrocknete Scheite und Kienspäne hinein und schürten die Glut. Da trat Odysseus zu ihnen und sprach: „Geht lieber hinauf zu eurem Herrin Flachs spinnen und Wolle kämmen, das ziemt euch besser. Für das Feuer lasst mich sorgen.“ Die Mägde aber lachten ihn aus, und eine schöne, junge Dienerin, Melantho mit Namen, die Penelope wie ihr eigenes Kind aufgezogen hatte, die aber nun mit dem Freier Eurymachos gemeinsame Sache machte, fuhr ihn an: „Was fällt dir ein, uns zu befehlen? Scher dich fort, elender Bettler! Du sprichst wohl im Rausch, oder ist dir dein Sieg über Iros zu Kopf gestiegen? Nimm dich in acht, unter den vielen edlen Männern hier könntest du leicht deinen Meister finden, dem dir den Schädel einschlägt und dich aus dem Palast wirft!“ „Schweig, du Hündin“, erwiderte ihr Odysseus finster, „sonst melde ich deine freche Rede dem Telemachos, der haut dich in Stücke.“ Diese Worte verscheuchten die Mägde, mit bebenden Knien flohen sie aus dem Saal. Odysseus aber stellte sich an die Feuerbecken, schürte die Glut zu hellen Flammen, dass blutigroter Schein alle Mauern übergoss, und hing seinen Rachegedanken nach. Tief in der Nacht verließen die Freier sein Haus, er war mit Telemachos allein. „Geschwind“, sagte er, „lass uns die Waffen verstecken, die Zeit ist da!“ Der Sohn rief seine alte Wärterin Eurykleia und befahl ihr, die Mägde vom Saal fernzuhalten, bis er des Vaters Waffen nach oben in den Söller geschafft habe. „Hier in dem vielen Rauch verlieren sie allen Glanz“, sagte er. Darüber freute sich die Alte. „Es ist recht“, meinte sie, „dass du endlich anfängst, dich um dein Gut zu kümmern. Doch wer soll dir die Fackel vorantragen, wenn du alle Dienerinnen fortschickst?“ Telemachos zeigte auf Odysseus und sagte: „Der Bettler da wird sie tragen. Wer aus meinem Brotkorb isst, muss auch arbeiten.“
Nun schleppten Vater und Sohn die Helme und Schilde, Lanzen und Schwerter nach oben, und Pallas Athene schritt mit ihrer goldenen Lampe vor ihnen her und verbreitete überall Licht. Telemachos, der die Göttin nicht sah, wunderte sich sehr und sprach: „Siehe doch, Vater, welch ein Wunder! Wie schimmern des Hauses Wände! Jeder Winkel, jeder Balken, jede Säule, alles leuchtet wie von Sonnenfeuer! Wahrlich, ein Gott muss zugegen sein.“ „Sei still, Sohn“, entgegnete ihm Odysseus in ehrfürchtigem Tone, „sei still und forsche nicht; gar viel vermögen die Himmlischen. Lege dich jetzt schlafen, ich will noch ein wenig wachen im Saal und die Mutter erwarten, sie wird mich vieles fragen wollen.“ Telemachos entfernte sich. Nach einer Weile trat Penelope aus ihrer Kammer, mit ihr einige Mägde, die den elf elfenbeinernen Thronsessel der Königin zum Feuer schoben und dann die Tische abräumten. Da richtete die schöne, freche Melantho zum zweiten Male das Wort an Odysseus und verhöhnte ihn abermals. „Du willst wohl hier im Palast übernachten, du grindiger Fremdling?“ fragte sie. „Mach, dass du fortkommst, oder ich werfe dir einen Feuerbrand nach!“ Voll Zorn entgegnete ihr Odysseus: „Ich weiß nicht, warum du mich so verachtest. Weil ich in Lumpen gehe und bettle? Auch ich war einst glücklich und reich, beschenkte jeden wandernden Fremdling. Doch Haus und Schätze und Dienerschaft hat mir Zeus genommen. Bedenke, Weib, dass auch du einst schmutzig und hässlich vor den Türen dein Brot erbetteln musst, wenn die Fürstin dir zürnt oder Odysseus heimkommt und dich aus dem Hause jagt. Auch Telemachos ist kein Kind mehr – wie, wenn er eines Tages die Mägde für ihre Unart züchtigt?“ Auch Penelope schalt die übermütige Dienerin aus. „Du Schamlose“, rief sie, „ich kenne deinen üblen Sinn. Du hast dein Leben verpfändet, dein Tag kommt! Wie kannst du den Mann verhöhnen, den ich ehre und nach meinem fernen Gemahl befragen will?“ Nun winkte die Königin den vermeintlichen Bettler zu sich heran und forschte ihn aus. Er gab auf alles richtig Antwort: welches Gewand Odysseus getragen habe, wie seine Begleiter geheißen hätten, alles wusste er genau. Trotzdem zweifelte sie an seinen Worten und traute ihnen nicht; und als der Bettler sagte, er habe gehört, dass Odysseus nach Dodona gegangen sei, um das Orakel des Zeus über seine Heimkehr zu befragen, und dass er zur Zeit des Neumonds also schon am folgenden Tage! – heil und gesund nach Hause kommen werde, schüttelte Penelope nur leise das Haupt und schwieg. Die allzu lange Trauer hatte den letzten Hoffnungsfunken in ihrem Herzen erstickt. Nach einer Weile sagte sie: „Du hast manche Unbill in meinem Haus erdulden müssen durch den Übermut der Freier, dafür sollen dir nun meine Mägde die Füße waschen und dir ein gutes, warmes Bett bereiten. Du sollst nicht sagen, Ithakas Königin ehre das Alter nicht.“ Und schon winkte sie ihre Dienerinnen herbei. Odysseus aber erwiderte: „Ich will keine Dienste von deinen jungen, schamlosen Mägden! Hast du aber ein altes, redliches Mütterchen, so mag das mir die Füße baden.“ Da rief Penelope ihre älteste Magd Eurykleia, die hatte den Odysseus als Knaben aufgezogen, so alt war sie. Sie rückte ein Schaff heran, füllte es mit warmem Wasser, entblößte die Füße des Fremdlings, um sie zu waschen. Wohl drückte sich Odysseus, so gut er konnte, ins Dunkel neben dem Herd, damit die Alte nicht etwa die Narbe der Wunde entdeckte, die ihm einmal auf der Jagd der Hauer eines wilden Ebers zugefügt hatte. Aber Eurykleia, der der fremde Bettler gleich vom ersten Augenblick an seltsam bekannt erschienen war, hatte die Narbe schon bemerkt, ihre tastenden Hände erkannten sie, und vor freudigem Schreck ließ sie das Bein ins Schaff fallen, dass das Wasser hoch aufspritzte. „Odysseus“, rief sie, „mein Sohn, du bist es!“ Aber der Bettler hielt ihr mit der Rechten den Mund zu, zog sie mit der Linken an sich und flüsterte ihr ins Ohr: „Willst du mich verderben? Ja, ich bin’s, aber noch darf es keiner wissen! Wenn dir dein Leben lieb ist, so schweige!“ Eurykleia gehorchte und bewahrte ihr Geheimnis tief in der treuen Brust. Penelope aber hatte von alledem nichts bemerkt, Pallas Athene hatte ihr mit himmlischen Händen Auge und Ohr verschlossen. Als Odysseus gewaschen und gesalbt war, richtete die Königin wieder das Wort an ihn und sprach: „Deute mir einen Traum, weiser Fremdling. Ich sah in der vergangenen Nacht einen Adler vom Gebirge her mitten in meine geliebte Gänseherde stoßen und alle meine schneeweißen Tiere töten. Mit blutigen, gebrochenen Hälsen lagen sie im Hof, der Raubvogel aber schwang sich in die Lüfte und entschwand. Ich schrie auf und weinte laut. Da kam der Adler zurück, setzte sich auf das Gesims des Hauses und redete mit menschlicher Stimme zu mir: Sei getrost, Tochter des Ikarios! Was du schaust, ist kein Traum, sondern ein Gesicht. Ich bin Odysseus und werde alle Freier töten!‘ So sprach der Adler, da erwachte ich.“ „O Fürstin“, sagte Odysseus, „freue dich! Was dein Gatte im Traume versprach, wird er am hellen Tage vollbringen! Keiner der Freier wird dem Verderben entrinnen, ihr Blut wird den Boden und die Wände dieses Saales röten!“ Doch Penelope schüttelte abermals den Kopf: „Es gibt auch Trugträume. Morgen ist der entsetzliche Tag da, an welchem ich dies Haus verlassen und einem der Freier als Gemahlin folgen muss. Noch weiß ich nicht, wem; aber mein Gatte Odysseus stellte bisweilen zwölf Äxte ohne Stiel hintereinander auf und schoss seinen Pfeil durch alle zwölf Axtösen hindurch. Wer von den Freiem dies Kunststück mit Odysseus‘ Bogen vollbringt, der soll mich haben und mich hinwegführen.“ Da lachte Odysseus das Herz. „Tue das, edle Königin“, rief er, „dann brauchst du dies Haus nie und nimmer zu verlassen! Denn nie und nimmer spannt ein anderer als Odysseus selbst seinen Bogen, und keiner der Helden vermag den Pfeil durch zwölf Axtlöcher zu schnellen außer ihm!“ Im Vorsaale des Königshauses hatte Eurykleia ihrem geliebten Herrn ein weiches Lager bereitet und ihn sorglich mit einem schweren Mantel zugedeckt, damit er ja nicht friere; schien er doch ein Greis mit abgezehrten, dürren Gliedern. So schlief er wohlig warm, von Athenes schützender Gegenwart umfangen, bis ihn die Morgenröte aus dem Schlummer weckte und vom Lager trieb. Er hörte nämlich Penelopes Weinen aus dem Frauengemach dringen: die Königin grämte sich, weil der Tag ihrer Hochzeit mit einem der verhassten Freier herauf dämmerte. Odysseus aber befürchtete, sie könnte in den Saal herabsteigen und ihn im hellen Licht vielleicht zu früh erkennen, trotz der Verwandlung. Darum lief er aus dem Palast, trat vor das Tor und erhob seine Hände betend zu Zeus. „Vater du der Götter und Menschen“, rief er flehend, „wenn du es warst, der mich unter bittersten Qualen über Länder und Fluten hier hergebracht in die geliebte Heimat, so gib mir ein deutliches Zeichen, dass dir meine Pläne gefallen und du dem Tode der Freier zustimmst!“ Er hatte aber noch kaum geendigt, als es aus wolkenlosem Himmel donnerte. Davon wurde sein Herz gestärkt. Mit steigender Sonne fanden sich die Freier wieder im Saale ein, schlachteten herrliches Mastvieh und ließen sich vom besten Weine mischen, galt es doch gerade an diesem Tage das Fest des „bogenführenden Gottes Apollon“ zu feiern, das auf Ithaka stets besonders heiliggehalten wurde. Der Schmaus begann. Odysseus hatte wiederum seinen Platz auf der Schwelle des Saales eingenommen und sah zu, wie das Volk von überallher zusammenströmte und sich zum heiligen Hain des sonnenstrahlenden Musengottes und himmlischen Bogenschützen begab, und sein Herz schwoll vor Zuversicht und Rachelust. Nun erhob sich der Herold der Freier und forderte Telemachos auf, seine Mutter zu zwingen, sich unter den werbenden Männern einen Gemahl auszuwählen. „Denn es ist wohl einem jeden klar, dass Odysseus niemals mehr wiederkehrt“, rief er, „er ist tot, und sein Leib modert längst in fremder Erde!“ Telemachos erwiderte: „Mit Gewalt werde ich meine Mutter nicht aus dem Hause jagen, doch rate ich ihr selbst, sich zu entscheiden!“ In diesem Augenblick verwirrte Athene die Gemüter der Freier. Sie fingen plötzlich unbändig zu lachen an, sprangen auf die Sitze und Tische, heulten wie Hunde und grunzten wie die Schweine, verzerrten ihre Gesichter zu scheußlichen Fratzen wie Dämonen und fraßen bluttriefendes rohes Fleisch. Sie gebärdeten sich ganz unsinnig vor Lustigkeit, fielen aber mit einem Schlage in die tiefste Schwermut und Traurigkeit. Tränen entstürzten ihren Augen, und der Seher Theoklymenos, ein Flüchtling, den Telemachos auf seiner Heimfahrt aus Pylos mitleidig auf sein Schiff genommen und nach Ithaka gebracht hatte, sprang auf und rief: „Was ist denn in euch, ihr Unseligen, gefahren? Ich sehe eure Häupter und Glieder von Nacht umhüllt, schreckliche Wehklagen tönen aus eurem Munde! Weh, weh, die Wände des Hauses triefen von Blut, von Schatten wimmelt der Vorhof, sie drängen zum Hades hinab! Unheil seh ich nahen, Unheil, dem keiner entflieht!“ Und er verließ mit verhülltem Haupte und eiligen Schritten den Saal. Nun stieg Penelope, von Athene unsichtbar gelenkt, zur Schatzkammer des Odysseus empor, wo die Geräte aus Gold und Erz lagerten. Dort hing auch sein Bogen und sein mit Pfeilen dicht gefüllter Köcher, beides Geschenke spartanischer Fürsten, die in Ithakas Palast zu Gaste gewesen. Schmerz überwältigte die Königin, als sie die Waffen ergriff und herabhob, lange hielt sie sie weinend im Schoß, auf einem Sessel sitzend. Endlich stand sie auf, übergab den Bogen und die Pfeile den Mägden und schritt diesen voran hinab in den Saal. „Wohlan, ihr Freier“, sprach sie, „die Stunde ist gekommen. Wer mich gewinnen will, der trete zum Wettkampf vor. Wer den Bogen des Odysseus spannt und den Pfeil durch zwölf Axtlöcher hindurchschnellt, der soll mein Gatte werden.“ Telemachos sprang auf, warf seinen Purpurmantel ab und ließ sein Schwert von der Schulter gleiten. Dann zog er eine Furche in den gestampften Lehmboden des Saales, grub die Beile, mit den Schneiden nach unten, hintereinander ein und ergriff als erster selbst den Bogen des Vaters. Er stellte sich auf die Schwelle und versuchte dreimal, ihn zu spannen. Dreimal versagten ihm die Kräfte, beim vierten Male wäre es ihm beinahe gelungen, hätte ihm Odysseus nicht abgewinkt. Da lehnte er die heilige Waffe an den Türpfosten und rief: „Weh mir, was bin ich doch so kraftlos und elend! Oder bin ich noch zu jung, um mich mannhaft wehren zu können? Versucht ihr anderen, die ihr stärker seid als ich, des Vaters Bogen zu spannen, und macht dem Wettkampf ein Ende!“ Hierauf begab er sich zu seinem Sessel zurück. Nun versuchten die Freier, einer nach dem anderen, den Bogen zu spannen, aber keinem gelang es, auch nicht Antinoos und Eurymachos, den stärksten von allen. Und auch dies, dass der Ziegenhirt Melanthios auf ihren Befehl den Bogen mit Speck einrieb und über dem Feuer geschmeidig zu machen versuchte, half ihnen nichts, seine Härte trotzte jedwedem Arm. Da trat Odysseus in den Saal. Er hatte sich heimlich in den Vorhof geschlichen und dort dem Sauhirten Eumaios und dem Rinderhirten gesagt, wer er sei und wie sie ihm bei der Vernichtung der Freier helfen sollten. Unter Tränen hatten die beiden ihn umarmt. Nun folgten sie ihrem Gebieter in die breite Halle mit der rußgeschwärzten Balkendecke. Schaurig wie ein dräuender Gott stand Odysseus auf der Schwelle. Seine Augen blitzten, unter den schäbigen Lumpen straffte sich sein Leib. „Lasst mich einmal schießen“, bat er, „heute ist doch der Festtag Apollons, wer möchte da nicht versuchen, einen so kostbaren Bogen zu spannen wie diesen, und wäre er gleich nur ein Bettler!“ Zornig fuhren die Freier auf. Aber Penelope sprach: „Ihr sollt dem Fremdling seine harmlose Bitte gewähren an diesem Fest. Alt und elend wie er ist, wird er mich kaum zur Gattin begehren wollen, auch wenn seinen zitternden Händen gelänge, was euch nicht gelungen ist. Lasst ihm die Freude.“ Da überreichte der Sauhirt dem Bettler den Bogen. Dann ging er durch den Saal ins Hinterhaus und verkeilte den Riegel der Pforte mit wuchtigen Schlägen, indes der Rinderhirt den Riegel am schweren Tor des Vorhofes mit einem armdicken Seil umwand, dass keiner ihn mehr zurückstoßen konnte. Währenddem wandte Odysseus den Bogen prüfend hin und her. Hatten nicht Würmer das Holz versehrt? Nein, er war makellos geblieben all die Jahre her. Nun spannte er ihn gemächlich, griff zur Probe in die Sehne wie ein Sänger in die Saiten der Laute. Und siehe da, die Waffe ertönte hell wie ein Schwalbenruf! Die Freier packte Entsetzen. Starr standen sie und sahen, wie Odysseus nach einem Pfeil griff, diesen einlegte und, auf einem Stuhle sitzend, die Ösen aller zwölf Beile durchschoss. Die Freier zuckten zusammen und erblassten. Odysseus aber rief seinem Sohne zu: „Der Fremdling im Saal hat dir keine Schande gebracht, denke ich! Doch jetzt ist es an der Zeit, diesen da am hell-lichten Tage das Nachtmahl zu bereiten!“ Und er gab Telemachos einen Wink. Da warf dieser sein Schwert über die Schulter, griff zur Lanze und stellte sich gewappnet neben seinen Vater. Jetzt streifte Odysseus die Lumpen ab und sprang mit Bogen und Köcher auf die hohe Schwelle. Er schüttete die Pfeile vor sich auf den Boden und rief: „Der erste Bogenkampf ist beendet, nun folgt der zweite! Für ihn wähle ich mir ein Ziel, das noch kein Schütze getroffen, und denke es nicht zu verfehlen!“ Damit zielte er auf Antinoos, der gerade einen gehenkelten goldenen Pokal mit beiden Händen zum Munde führte. Da fuhr ihm der Pfeil des Odysseus in die Gurgel, dass die Spitze hinten aus dem Genick hervordrang. Der Becher entfiel seiner Hand, ein Blutstrahl schoss ihm aus der Nase; im Niedertaumeln stieß er den Tisch samt den Speisen um, dass die Leckerbissen über den Boden rollten, von seinem Blute besprengt. Tobend sprangen die Freier von ihren Sesseln auf und riefen nach Waffen, doch da war weder Schild noch Lanze zu sehen. „Ihr Hunde“, rief ihnen Odysseus zu, „ihr glaubtet wohl, ich würde nie wieder von Troja zurückkehren, darum verprasstet ihr mein Gut, verführtet mein Gesinde und bedrängtet mein Weib, indes ich lebte! Weder Göttliches noch Menschliches ist euch heilig – nun aber ist die Stunde eures Verderbens gekommen!“ Wohl schrien die Freier vor Wut und Todesangst auf, wohl versuchten sie, Odysseus durch reumütige Worte zu besänftigen, und boten ihm reiche Sühnegaben, Rinder, Gold und Erz, an, wenn er ihnen das Leben schenkte. Aber der Fürst, von Athenes goldenem Stabe berührt und herrlicher, strahlender wachsend mit jedem neuen Atemzuge, erwiderte grimmig: „Nicht für alles Gold der Erde ließe ich euch ungestraft – eure Missetaten heischen blutige Sühne! Darum kämpft oder flieht; aber ich glaube, nicht einer wird mir entrinnen!“ Da erblassten die Freier bis in die Lippen. „Dieses Mannes Hände hält kein Gott mehr auf!“ riefen sie. Doch Eurymachos entfachte noch einmal ihren Mut, er schrie: „Zieht die Schwerter und benützt die Tischplatten als Schilde! So dringen wir gegen ihn vor, vertreiben ihn von der Schwelle und zerstreuen uns durch die Stadt, dort finden wir Freunde!“ Sprach’s und riss sein Schwert aus der Scheide. Mit grässlichem Geschrei stürzte er sich auf Odysseus, doch im selben Augenblick durchbohrte ihm der Pfeil des Helden die Leber. Das Schwert entsank ihm, auch er riss einen Tisch um, warf Speisen und Becher zur Erde, schlug mit der Stirne den Boden und stampfte den Sessel mit den Füßen hinweg; es waren seine letzten Zuckungen, dann lag er still, indes die Kameraden wutschreiend die Tischplatten hochrissen und sich dahinter verbargen. Aber es nützte ihnen nichts; solange Odysseus noch Pfeile hatte, erlegte er mit ihnen einen Freier um den anderen. Von der Wucht des Bogens getrieben, durchschlugen die Geschosse die dicksten Tischplatten. Amphinomos, der mit dem Schwerte bis zur Schwelle vordringen konnte, sank, von Telemachos‘ Speer getroffen, zu Boden, und Nacht umfing ihm Augen und Seele. Als die Pfeile verschossen waren, lehnte Odysseus den Bogen an den Türpfosten und wappnete sich mit Helm, Stierschild und Lanze. Da bemerkte er, dass der treulose Ziegenhirt Melanthios durch eine unbewachte Seitenpforte den Freiem Waffen aus der Rüstkammer brachte. Auf einen Wink des Königs eilten Eumaios und der Rinderhirt in den schmalen, dunklen Gang, in welchen die Pforte führte, und als Melanthios zum zweiten Male zur Rüstkammer eilen wollte, ergriffen sie ihn, fesselten ihm Hände und Füße auf dem Rücken und zogen den Schreienden an einem Seil bis dicht unter die Balken der Decke empor. „Wir haben dich sanft gebettet“, rief ihm der Sauhirt zu, „schlaf wohl!“ Dann zog er die schwere Tür hinter sich zu, verkeilte den Riegel und lief mit dem Rinderhirten zu seinem Herrn, um diesem im Kampf gegen die Freier beizustehen. Furchtbar war die Rache des Odysseus; wie Schnee an der Sonne, so schmolz der Haufe der Verräter zusammen, nicht einer der treulosen Fürsten entkam, zu hoch waren die Mauern des Hofes, zu wohlverschlossen die Tore. Ein grausiges Blutbad ward angerichtet im Saal, Decke und Wände waren rot besprengt, ein Chaos von Tischen und Stühlen, Speisen und kostbarem Geschirr, silbernen Krügen und goldenen Bechern bedeckte den Lehmboden, Blut und Wein rannen ineinander. Furchtbare Streiche und Stöße teilten Odysseus und seine Helfer – Telemachos, Eumaios und der Rinderhirt – aus. Da gesellte sich plötzlich Athene in der Gestalt des alten Mentor zu ihnen und stachelte Odysseus zum letzten Kampf auf. „Durch deinen Rat und Mut sank Troia in Schutt und Asche“, rief sie ihm zu, „nun zeige, dass du auch im eigenen Hause der Herr bist! Töte die letzten der Freier und ihres Gefolges – nur Phemios verschone, den Sänger, er ist den Göttern heilig und ohne Schuld – siehe, wie Telemachos für ihn bittet!“ Dann flog sie jählings zur Decke empor und saß dort gleich einer Schwalbe im rußigen Gebälk, bis unter ihr das schaurige Ringen entschieden war. Da hob sie den leuchtenden Aigis-Schild und entschwand zum Olympos. Als kein lebender Feind mehr zu erblicken war, nicht im Saale und nicht im Vorhof, rief Odysseus nach der Wärterin Eurykleia. „Freue dich, Mütterchen“, sagte er ernsthaft, „aber jauchze nicht; über Erschlagene soll kein Sterblicher jubeln. Diese hat das Gericht der Götter gefällt, nicht ich. Jetzt aber nenne mir unter allen Weibern im Palaste jene, die sich treulos gezeigt!“ Eurykleia bezeichnete ihrem Herrn zwölf von den fünfzig Dienerinnen, die mussten in den Saal kommen und die Leichen über die Schwelle ins Freie schaffen. Dann befahl ihnen der Fürst, den Boden der Halle zu reinigen, allen Unrat vor die Tür zu schleppen und Stühle und Tische zu waschen. Als dies geschehen war, trieben Telemachos und die beiden Hirten sie in das Küchengewölbe, spannten ein Schiffsseil von einem Pfeiler zum anderen und erhängten die treulosen Mägde daran. Wie ein Zug Drosseln baumelten und zappelten sie nebeneinander; die schöne, hochmütige Melantho musste ebenfalls daran glauben, wie sehr sie auch schrie und sich wehrte. Die Hirten holten auch noch den Verbrecher Melanthios von der Decke des dunklen Ganges zur Rüstkammer herab und hieben ihn in Stücke. Das Rachewerk war vollbracht. Nun ließ sich Odysseus von der alten Magd Eurynome ein warmes Bad bereiten, wusch und salbte sich und legte sein schönstes Gewand an. Eurykleia hatte indessen die Fürstin geweckt, die, von Athene mit schützendem Schlummer beschenkt, das blutige Ringen und grausige Toben im Saale völlig verschlafen hatte. „Steh auf, Penelope“, rief Eurykleia, „Odysseus ist zurückgekehrt! Herrlicher als da er auszog, kehrt er uns zurück; schon gestern erkannte ich ihn an der Narbe seines Fußes. Die Freier sind erschlagen, die Mägde bestraft – in der Halle sitzt der Held und erwartet dich!“ Penelope schwankte zwischen Hoffnung und Zweifel. Zu oft war sie von falscher Botschaft genarrt worden, zu lange hatte sie um Odysseus geweint, als dass nicht Misstrauen in ihrem Herzen aufkeimte bei allem, was den geliebten Gatten betraf. „Lass mich den schauen, der die Freier erschlug“, sagte sie ernst und schritt, gefolgt von der Dienerin, in den Saal hinab. Da saß Odysseus, an die Säule gelehnt, und wartete auf ein Wort aus Penelopes Mund. Aber obgleich ihn die Königin erkannte, zweifelte sie dennoch, ob es nicht ein Trugbild sei, das sie täuschte. Schweigend begab sie sich zum Herd und setzte sich im Schein der Glut dem König gegenüber. Tiefe Stille herrschte im Saal, stumm im Dunkel harrte Telemachos der Dinge, die nun kommen sollten; Eurykleia war auf der Treppe zurückgeblieben. Nach einer langen Weile öffnete endlich Odysseus die Lippen und sprach, indes Athene ihn aus den Wolken herab mit Schönheit übergoss: „Wunderliche Frau, die du bist, dir müssen die Himmlischen das Gemüt verhärtet haben. Zwanzig Jahre war ich fern, die Freier erschlug ich und bin nun endlich daheim – du aber findest kein liebes Wort für mich nach all der Trübsal. So bin ich denn auch zu Hause ein Fremdling. Eurykleia! Bereite du mir ein Lager, auf dem ich mich einsam niederlege, denn diese da“ – er zeigte auf Penelope- „hat ein Herz aus Eisen.“ Ein jäher Gedanke durchzuckte Penelopes Herz, ein Hoffnungsstrahl erleuchtete ihre Seele. Sie wandte sich nach der Treppe um und sprach: „Wohl weiß ich, wie Odysseus aussah, da er Ithaka verließ, mich täuscht man nicht. So trage denn das Bett meines Gemahls, das er sich selbst gebaut hat, aus dem Schlaf gemach hinaus und richte es mit Fellen, Kissen und Decken für diesen zu, der wohl ein Held, aber nicht Odysseus ist.“ Da fuhr Odysseus zornig auf: „Das war ein kränkendes Wort! Unmögliches verlangst du von deiner Dienerin! Mein Bett vermag kein Sterblicher von der Stelle zu rücken, und wenn er alle Jugendkräfte anspannte. Ich selber habe mir die Lade gezimmert, und es ist ein großes Geheimnis daran. Hier, wo heute dieser Palast steht, ragte einst ein schattiger Olivenbaum wie eine Säule zum Himmel auf. Da ließ ich unser Königshaus so anlegen, dass der Stamm des Ölbaums mitten in unserem Schlafgemach zu stehen kam. Als nun die Kammer schön aus Steinen erbaut und die Decke aus bunten Hölzern zierlich gebildet waren, hieb ich die Krone des Baumes ab, schälte und glättete den Stamm und schnitzte aus ihm einen der vier Bettpfosten. Darum kann niemand mein Lager verrücken, ohne den t5lbaum von seiner Wurzel zu trennen.“ Penelopes Knie zitterten, und ihr Herz erbebte in süßem Schrecken, als sie Odysseus so reden hörte. Weinend stürzte sie ihm in die Arme und rief: „Du bist es! Du bist es, mein Geliebter, mein Gemahl. Zürne mir nicht, dass ich durch die Jahre der Trennung und Trauer so misstrauisch wurde und so listig wie du, du Listenreichster von allen! Mein Befehl an Eurykleia war die Versuchung, die ich dir bereitete, um dich gewiss zu erkennen, denn niemand außer dir und mir und den Unsterblichen weiß um das Geheimnis des verwurzelten Bettes. An diesem Zeichen erkannte ich dich, und nun sind alle Zweifel geschwunden und alle Leiden zu Ende!“ Die halbe Nacht verging den Gatten unter beglücktem Gespräch und den Erzählungen des unendlichen Elends, das sie erduldet, und Penelope legte sich erst zur Ruhe, als Odysseus ihr alles berichtet hatte, was sich in Troja begeben und wie er von dort über Inseln und Meere zu ihr zurückgefunden hatte. Am anderen Morgen machte sich Odysseus mit Telemachos und den beiden treuen Hirten auf den Weg zu seinem alten Vater Laertes. Als sie dessen Landgut erreichten, hieß Odysseus seine Begleiter zurückbleiben und begab sich allein in den Obstgarten, wo Laertes gerade die Erde um ein junges Bäumchen lockerte. Er war wie ein Knecht in einen schmutzigen Leibrock und zerschlissene Beinschäfte aus Ochsenleder gekleidet, denn er trauerte um seinen Sohn. Lange betrachtete Odysseus, im Schatten eines Birnbaumes stehend, den Vater. Dann trat er hinter ihn und sprach: „Alter, du scheinst ein trefflicher Gärtner zu sein, gleichst aber dennoch einem König an Wuchs und Schönheit. Welchem Herrn dienst du denn? Bin ich hier wirklich auf Ithaka, wie man mir sagte? Aus Ithaka stammte mein liebster Gastfreund, den ich hatte, den suche ich hier. Er sagte mir, König Laertes sei sein Vater. Fünf Jahre ist es her, seit wir uns trennten, und sein Schiff war von glückbringenden Vögeln begleitet, es muss längst in der Heimat gelandet sein.“ Statt jeder Antwort sank der Greis, vom Schmerz überwältigt, auf die Knie und streute Erde auf sein Haupt vor Trauer um den geliebten Sohn. Er weinte. Da schwoll dem Odysseus das Herz, der Atem wollte ihm schier die Brust zersprengen; er umarmte und küsste den alten König und rief: „Ich bin es ja selbst, Vater, um den du weinst, ich, Odysseus, nach zwanzig Jahren heimgekehrt! Verzeih mir, dass ich dein Herz mit listiger Rede erprobte – um so größer ist meine Freude nun, da ich deine Trauer geschaut. Doch nun stille die Tränen für immer, denn siehe: ich habe alle Freier erschlagen.“ Laertes schwanden die Sinne vor Glück. Ohnmächtig ruhte er in den Armen des Sohnes. Als er wieder zu sich kam, begleitete ihn Odysseus nach dem Landhaus, wo sie mit dem Altknecht Dolios und dessen Söhnen sich zu festlichem Schmause setzten, an dem auch Telemachos und die Hirten teilnahmen. Zum erstenmal wieder nach so vielen Jahren erschien Laertes fürstlich gekleidet bei Tische. Noch einmal wurde der Friede der meerumspülten Insel Ithaka gestört, als nämlich die Verwandten und Freunde der erschlagenen Freier von den umliegenden Inseln und aus Ithaka selbst herankamen und den Krieg gegen Odysseus und Telemachos entfachen wollten. Die Könige rüsteten sich und stürzten sich auf die Angreifer, und es wäre zu einem schrecklichen Blutvergießen gekommen, wenn Athene nicht mitten in der Schar der Streitenden erschienen wäre und Einhalt geboten hätte. Ihre gewaltige Götterstimme fuhr allen durch Mark und Bein, und sie gehorchten. Odysseus, der Fürst von Ithaka, schloss ein neues Friedensbündnis mit seinem Volk und den Bewohnern der Inseln in der blauen Weite des griechischen Meeres. So war Odysseus nach langer Fahrt heimgekehrt und wieder Herr in seinem Eigentum. Was er alles erlitten und siegreich überstanden hatte, trug ihm den Beinamen „der göttliche Dulder“ ein, den jeder mit ehrfürchtigem Schauer hören und aussprechen wird, solange fühlende Menschen diese Erde bevölkern.

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Die Irrfahrt des Odysseus 3

Ich sehe euch erschüttert, Freunde; und doch waren es nur meine Worte, die euch berührten. Nun denket, wie es uns erging, die wir doch alle die Abgeschiedenen wirklich sahen! Aber genug davon. Höret, was uns weiterhin begegnete. Wir gelangten glücklich nach Aiaia, dem Eiland der Kirke, und wurden von der Zauberin freundlich empfangen. Wir errichteten unserem unglücklichen Genossen den Scheiterhaufen, bestatteten seine Asche in der Erde und türmten darüber einen Grabhügel mit einer Denksäule. Hierauf versorgte uns Kirke reichlich mit Lebensmitteln, warnte mich ausführlich vor den schlimmen Gefahren, die uns noch bevorstünden, und wir segelten weiter. Das erste Abenteuer, von dem mir Kirke geweissagt hatte, erwartete uns am Eiland der Sirenen, sangesreicher Nymphen, die jeden umgarnen, der ihrem Liede lauscht. Am grünen Gestade sitzen sie und singen ihre Zauberlieder den vorüberfahrenden Schiffern zu. Wer sich von ihnen hinüberlocken lässt, ist des Todes; moderndes Gebein liegt in Mengen zu ihren Füßen am Ufer umher. „Wenn du an die Insel der Sirenen kommst“, hatte mir Kirke gesagt, „so verklebe die Ohren deiner Freunde mit Wachs, auf dass sie nichts von dem Gesange hören. Doch willst du selbst das gefährliche Lied vernehmen, so lass dich an Händen und Füßen fesseln und so an den Mast binden. Den Freunden aber befiehl, die Stricke ja nicht zu lösen, und wenn du sie noch so flehentlich darum bätest. Im Gegenteil, nur immer fester sollen sie die Fesseln anziehen, damit du nicht etwa ins Wasser springst und zu den Nymphen hinüberschwimmst.“ Als nun in der Ferne das grünende Eiland aus den Fluten tauchte, zerschnitt ich eine große Scheibe Wachs, knetete die Stücke weich und verklebte damit meinen Reisegenossen die Ohren. Dann ließ ich mich von ihnen fesseln und aufrecht an den Mast binden; sie aber setzten sich wieder an die Ruder und trieben das Fahrzeug getrost vorwärts. Immer näher kamen wir der Insel, und da standen auch schon die reizenden Mägdlein am Ufer und sangen mit wundersüßen, hellen Stimmen:
„Komm doch, Odysseus, komm, Gepriesener, Stolz aller Griechen!
Lenke dein Schiff ans Land, um unserer Stimme zu lauschen!
Keiner noch ruderte hier vorbei im düsteren Schiffe,
den nicht aus unserem Munde des Liedes Honig erquickte.
Alles singen wir dir, was einst nach dem Willen der Götter
Griechen und Troer gelitten vor Ilions Mauern, denn alles, alles,
was rings geschieht auf der vielernährenden Erde,
wissen und singen wir dir – o komm und lausche der Kunde!“

Mir schwoll das Herz in der Brust vor Begierde, dem Gesange länger zuzuhören, und ich winkte meinen Freunden verzweifelt mit dem Kopf, mich doch loszubinden. Sie aber mit ihren tauben Ohren, die nicht wussten, welch namenloser Verzückung und Versuchung ich ausgesetzt war, sie stürzten sich auf mich und zogen die starken Stricke so fest, dass sie mir ins Fleisch schnitten. Dann legten sie sich mit aller Kraft in die Ruder und trieben das Schiff eilig aus dem Bereich der tödlich verlockenden Stimmen hinaus. Als wir endlich so weit von dem Eiland entfernt waren, dass kein Gesang mehr zu hören war, nahmen sich meine Freunde das Wachs aus den Ohren und lösten mir die Fesseln. Ich dankte ihnen von Herzen dafür, dass sie so beharrlich gewesen. Wir waren noch nicht lange weitergerudert, als wir in der Ferne den Wasserstaub einer mächtigen Brandung sahen und bald darauf auch deren Tosen vernahmen. Es war die Charybdis, ein Strudel, der dreimal des Tages unter einem riesigen Felsen hervorquillt und wieder zurückwallt, alles verschlingend, was in seinen Rachen gerät. Meine Begleiter ließen vor Schreck die Ruder fahren, platschend fielen sie ins Wasser, und unser Fahrzeug stand still. Da sprang ich von meinem Sitz auf, durcheilte das Schiff und sprach den Freunden, von Mann zu Mann gehend, Mut zu. „Bleibt fest auf euren Bänken sitzen“, sagte ich, „schlagt tapfer mit den Rudern in die Brandung, Zeus wird unsere Flucht aus dieser Not gewiss unterstützen. Du aber, Steuermann, schärfe alle deine Sinne und lenke das Schiff, so gut du kannst! Arbeite dich geschickt am Felsen vorbei, damit du nicht in den Strudel gerätst!“ So stärkte ich die Freunde für die bevorstehende Gefahr; von dem Ungeheuer Skylla, das gegenüber der Charybdis die vorbeifahrenden Schiffe bedrohte, schwieg ich wohlweislich, denn ich befürchtete, die Genossen möchten vor Schreck ein zweites Mal die Ruder fahren lassen und uns damit in die größte Gefahr bringen. Die Skylla, die mir Kirke genau geschildert hatte, hauste gegenüber der Charybdis auf einem Felsen aus dunklem, glattem Gestein. Wie ein Turm ragte er in den Himmel, und sein spitziges Haupt, das noch nie ein Sonnenstrahl traf, wird ewig von schwarzem Nachtgewölk umfangen. Dort oben ist die Höhle der Skylla, und fürchterlich tönt ihr Bellen über die Flut. Sie hat zwölf unförmige Füße und sechs Schlangenhälse, deren jeder einen scheußlichen Kopf trägt. Jedes der sechs Mäuler ist mit drei dichten Reihen von Zähnen bewehrt, mit denen sie ihre Opfer zermalmt. Der Hinterleib des Ungeheuers steckt in der Höhle, die Häupter aber streckt sie weit hervor und schnappt mit ihnen nach Seehunden oder Delphinen. Kein Schiff noch durfte sich rühmen, ohne Verluste an der Skylla vorbeigefahren zu sein, meist hat sie, ehe sich’s einer versieht, in jedem Rachen einen Mann zwischen den Zähnen, den sie von den Ruderbänken blitzschnell geraubt hat. Dieses grässliche Bild vor der Seele, spähte ich vergebens umher, ich konnte die Skylla nicht entdecken. Inzwischen waren wir ganz nahe an die Charybdis geraten, deren gieriger Rachen die Meeresflut einschlürfte und wieder ausspie. Wenn sie das Wasser herausbrach, flog weißer Schaum empor, schluckte sie es aber wieder hinunter, so senkten sich die finsteren Wogen tief hinab, und indes der Fels donnerte, konnte man die schwarzen Kieselsteine auf dem Grunde erblicken. Entsetzt starrten wir auf dieses Schauspiel. Wir wichen dem Strudel zur Linken aus, kamen dabei jedoch der Skylla zu nahe, deren Fels ich zu spät entdeckte, und schon hatten ihre fletschenden Rachen sechs meiner tapfersten Genossen auf einmal vom Bord hinweggeschnappt. Ich sah sie mit zappelnden Händen und Füßen zwischen den Zähnen des Ungeheuers hoch in die Lüfte schweben; hilfeflehend riefen sie mich beim Namen, einen Augenblick später waren sie zermalmt. Viel Schreckliches habe ich auf meiner Irrfahrt erdulden und mit ansehen müssen, ein jammervollerer Anblick ist mir nicht geworden. Nun aber waren wir glücklich zwischen dem Strudel der Charybdis und dem Felsen der Skylla hindurchgelangt, die sonnenbeglänzte Insel Thrinakia lag vor uns, die dem Sonnengotte geweiht ist, und schon von weitem hörten wir das Brüllen der heiligen Rinder. In diesem Augenblick fiel mir ein, was mir Teiresias, der blinde Seher im Schattenreich, verkündet und dass auch Kirke mich davor gewarnt hatte, die Insel des Helios zu betreten, weil uns dort das jämmerlichste Schicksal bevorstünde. Ich sagte es den Gefährten, die darüber sehr betrübt waren und mich inständig baten: „Lass uns doch wenigstens eine einzige Nacht dort am Ufer verbringen, das uns so gastlich entgegenwinkt!“ Ich gab nach, ließ sie aber einen heiligen Eid schwören, kein Rind aus der Herde des Sonnengottes zu schlachten, auch wenn der Hunger noch so groß sein sollte. Sie alle schwuren willig, und so ließen wir unser Fahrzeug in eine Bucht einlaufen, aus der sich süßes Wasser ins Salzmeer ergoss. „Ich warne euch nochmals, liebe Gefährten“, rief ich, ehe wir landeten, „mordet mir keines der heiligen Rinder, und sollten wir gleich widriger Winde wegen länger hier verweilen müssen, als uns lieb ist!“ In der Tat hielten uns beständige Oststürme vier Wochen auf Thrinakia fest. Solange wir von dem Vorrat zehrten, mit dem uns die Zauberin versorgt hatte, dachte niemand daran, sich an Helios‘ Herde zu vergreifen. Als aber Speise und Trank zu Ende waren und der Hunger sich einstellte, da riet Eurylochos, während ich selbst gerade abwesend war, dem Gott die schönsten Rinder seiner Herde zu opfern und an dem übrigbleibenden Fleisch den quälenden Hunger zu stillen; ein verderblicher Rat! Die Genossen trieben auch sogleich die allerbesten Rinder herbei, schlachteten sie und brachten die Eingeweide mit den in Fett eingewickelten Lenden auf einem rasch errichteten Altare zum Opfer dar. Die reichlichen Überreste steckten sie an Spieße, brieten sie über dem Feuer und setzten sich eben zum Mahle, als ich, dem der Opferduft schon von weitem entgegengedampft war, herankam und sah, dass das Unglück nicht mehr abgewendet werden konnte. Zur selben Stunde erschien der Sonnengott, dessen klares Auge alles mit angesehen hatte, vor Zeus und den übrigen Göttern und klagte ihnen den Frevel an seinem Eigentum. „Werden die Verbrecher nicht bestraft, wie sie es verdienen“, rief Helios, „so lenke ich den goldenen Sonnenwagen hinab zum Hades und entziehe der Erde für immer mein Licht!“ – Da erhob sich Zeus von seinem Throne und sprach: „Leuchte du getrost auch weiterhin den Göttern wie den Menschen – ich will den verfluchten Räubern ihr Schiff bald zerschmettern, dass sie alle in den Abgrund versinken. Lass sie nur erst wieder auf die offene See hinausfahren!“ Diese himmlischen Vorgänge erzählte mir später der göttliche Mund der Nymphe Kalypso, doch konnte ich den Zorn der Götter schon jetzt an schauerlichen Wunderzeichen erkennen. Denn während ich in tiefem Unmut die Genossen anfuhr und mit harten Worten schalt, krochen auf einmal die abgezogenen Häute der Rinder umher, als ob sie lebendig wären, und das rohe Fleisch wie die Braten am Spieß brüllten, wie Rinder brüllen. Meine hungrigen Begleiter störte das freilich nicht, sie schmausten sechs Tage lang in einem fort, und erst am siebenten, als sich die Stürme legten, stiegen wir wieder zu Schiff und lösten uns vom Lande ab. Wir steuerten bei gutem Winde dahin. Längst hatten wir die Insel aus unseren Augen verloren, nur Himmel und Wasser umgaben uns. Da ballte Zeus über unseren Häuptern schwarzblaues Gewölk zusammen, und das Meer unter uns wurde immer dunkler. Plötzlich begannen alle Höhen und Tiefen zu grollen, und ein wütender Orkan brach, aus Westen kommend, über uns herein. Er zerriss die Haltetaue des Mastbaums und schleuderte die schwere Stange samt dem Segel krachend rückwärts in das Schiff. Die ganze Last stürzte dem am Heck sitzenden Steuermann auf den Kopf und zerbrach ihm den Schädel; wie ein Taucher sank er ins Meer hinab, und die Wellen verschluckten den Leichnam. Jetzt erschütterte ein Blitz das Schiff und füllte es mit Schwefeldampf; Zeus‘ Donnerkeil hatte uns getroffen. Meine Freunde stürzten aus dem Fahrzeug, zappelten noch eine Weile wie schwimmende Krähen in den Wellen umher und versanken endlich alle bis zum letzten Mann. Ich irrte allein durch das Schiff. Bald löste sich die Wandung von den Rippen. Da ergriff ich ein Lederseil, das am Maste hing, und verband diesen mit dem Kiel. Hierauf schwang ich mich rittlings auf die Stange und trieb so, den Tod vor Augen, durch den Sturm und die tobenden Fluten dahin. Endlich legte sich der Orkan. Doch nun erhob sich heftiger Südwind, der trieb mich wieder der Charybdis zu. Immer näher hörte ich ihr drohendes Brausen und Gurgeln, und im Morgendämmern erblickte ich auch den düsteren, spitzen Felsen der Skylla gegenüber dem grässlichen Strudel. Der verschlang gar bald mein armseliges Gefährt. Im letzten Augenblick packte ich die Äste eines Feigenbaumes, der vom steilen Ufer über das gischtende Wasser ragte, und hing nun zwischen Himmel und Meer wie eine Fledermaus schwebend in der Luft. Mit aller Kraft hielt ich mich im schwankenden Gezweige, bis die Charybdis Mast und Kiel endlich wieder ausspie. Da ließ ich die rettenden Äste fahren und war mit einem Sprung wieder auf meinem alten Sitz. Mit den bloßen Händen ruderte ich aus dem Wirbel hinaus und wäre dennoch verloren gewesen, hätte mich Zeus, den meine Leiden rührten, nicht vor den Augen der Skylla verborgen. Neun Tage trieb ich auf dem schmalen Kiele in der See umher, ehe mich gnädige Götter in der zehnten Nacht endlich an Kalypsos Insel gelangen ließen. Die Göttin nahm mich liebreich auf, pflegte und erquickte mich, und ich genoss, wenn auch von Heimweh bedrückt, lange Zeit ihre Wohltaten und die Wunder ihres prangenden Eilandes. Doch davon habe ich dir, edler König der Phaiaken, und deiner hohen Gemahlin schon am gestrigen Tage erzählt.

Ergriffen und bezaubert hatten die Phaiaken gelauscht. Nun schwiegen sie lange. Endlich erhob sich Alkinoos und sprach: „Edler Held! Du bist in meine Wohnung eingekehrt, und ich hoffe, du wirst von hier ohne neue Leiden und Irrfahrten in deine Heimat gelangen. Mögest du bald im Hause deiner Väter alles erduldete Elend vergessen. Ihr aber, Freunde, die ihr mit mir seiner Erzählung gelauscht habt, füget doch zu unseren Gastgeschenken noch ein jeder einen ehernen Dreifuß und ein erzenes Becken hinzu!“ Mit Freuden folgten die Gäste der Aufforderung ihres Fürsten. Sie verließen den Palast. Beim Morgengrauen des anderen Tages waren sie alle mit ihren Gaben zur Stelle. Der König ließ die wuchtigen Geräte sogleich zum Schiff bringen, auch die kostbare Lade mit den Geschenken des Vortages, und Alkinoos verstaute alles eigenhändig unter den Bordbänken, damit die Ruderer während der Fahrt ja nicht durch die vielen Gegenstände behindert würden. Hierauf kehrte man vom Hafen zum Palast zurück und rüstete zum Abschiedsmahl. Ein Rind wurde am Altare geschlachtet und ein saftiges Stück davon dem Zeus geopfert. Sodann setzte man sich zum Schmaus, und Demodokos erfreute die Tafelrunde ohne Unterlaß mit den herrlichsten Gesängen. Odysseus‘ Gedanken aber schweiften immer wieder zur Heimat. Endlich sprach er ohne Scheu zu seinem königlichen Wirt: „Gepriesener Held Alkinoos, nun spende das Trankopfer und entlasse mich in Frieden! Das Schiff liegt bereit, die Fahrt kann beginnen. Mögen dich die Götter segnen mit allem Guten, wie ich mir stets wünsche, mein Weib untadelhaft und die Meinen daheim wohlbehalten zu finden.“ Die Phaiaken stimmten in seinen Wunsch laut und von Herzen ein. Noch einmal musste der Herold den Gästen die goldenen Becher füllen, dann standen alle auf und brachten gemeinsam mit dem König den Göttern das Trankopfer dar. Als der Wein vergossen war und sein Duft himmelwärts stieg, reichte Odysseus seinen Becher der Königin Arete und sprach: „Lebe wohl auch du, hohe Königin, Mutter der holden Nausikaa, die mir das Leben gerettet und die mich zu euch gebracht! Mögest du an der Seite deines edlen Gemahls stets glücklich sein und dich deiner Kinder wie deines Volkes freuen. Alter und Tod aber, die keinem von uns erspart bleiben, sie seien dir gnädig und milde!“ So redete Odysseus, ergriff des Königs dargebotene Hand und verließ den Palast, geleitet von einem Herold, der ihn bis an das Schiff brachte. Auf Aretes Geheiß folgten ihm drei Dienerinnen mit einem Leibrock und einem Mantel und mit Körben voll Speisen und Wein für die Fahrt. Dienstfertige Hände breiteten auf dem Verdeck ein zottiges Fell aus und zogen feines Linnen darüber. Schweigend stieg Odysseus ein, streckte sich auf dem weichen Lager aus und sank sogleich in tiefen Schlummer. Die Ruderer setzten sich auf die Bänke, das Schiff wurde losgebunden und enteilte mit gebäumtem Bug sicher durch die purpurnen Wogen des Meeres. Süß war der Schlaf des Odysseus, aber auch tief wie der Tod. Schnell wie ein Wagen, mit dem vier Hengste über die Rennbahn stürmen, flog das Schiff dahin, kein Falke hätte es eingeholt. So trug es den Mann, der weise war wie ein Gott und mehr erlitten hatte als jeder andere Sterbliche, nun aber, alles Herbe vergessend, erlöst schlummerte, und führte ihn seiner Heimat entgegen. Der Morgenstern kündigte den neuen Tag an, da steuerte das Schiff in voller Fahrt auf die Insel Ithaka zu und lief bald in die sichere Bucht ein, die dem Meeresgotte Phorkys geweiht war. Zwei gekrümmte Landzungen mit schroffem Felsgestein bilden hier einen guten Hafen. An seinem innersten Punkt stand ein uralter, schattiger Ölbaum dahinter dämmerte eine Grotte, in welcher Meernymphen wohnten. Mächtige Krüge und Urnen standen umher, in denen summende Bienen süßen Honig bereiteten. Auch steinerne Webstühle waren da, auf welchen die Nymphen mit purpurnen Fäden herrliche Gewänder woben, die wie die Meerflut schillerten. Zwei nie versiegende Quellen rannen durch die Grotte, die zwei verschiedene Eingänge hatte: einen gegen Mitternacht für die Menschen, einen verborgenen gegen Mittag für die unsterblichen Nymphen. Bei dieser Höhle landeten die Phaiaken. Sie hoben den schlafenden Helden samt seinem Lager aus dem Schiff, betteten ihn unter den Ölbaum und legten die Geschenke verborgen nieder, damit nicht etwa ein Wanderer den Schlummernden berauben möchte. Odysseus zu wecken, wagten sie nicht. „Gewiss haben ihm die Götter diesen Schlaf geschickt“, sagten sie ehrfürchtig. Dann setzten sie sich wieder an die Ruder und fuhren zurück in ihre Heimat. Aber Poseidon, der Flutengott, grollte den Phaiaken, weil es ihnen mit Pallas Athenes Hilfe gelungen war, ihm den verhassten Laertiden zu entreißen und sicher nach Ithaka zu bringen. Als sich ihr Schiff nun der heimischen Küste näherte – freudig schlugen die Ruder das salzige Wasser, und die Segel waren von lebhaftem Winde gebläht -, da tauchte der Gott aus den Wogen, schlug mit der flachen Hand gegen die Planken und verschwand wieder. Im selben Augenblick war das prächtige Schiff zu Stein verwandelt und wurzelte im Meeresboden vor der Küste fest. Staunend sah es das Volk, das mit Alkinoos zum Strande geeilt war, um die Heimkehrenden zu begrüßen. „Weh uns“, rief der König aus, „eben noch war es in voller Fahrt, nun ist es zum Felsen erstarrt. So erfüllt sich jetzt die uralte Weissagung, von der mir mein Vater berichtete: Poseidon zürne uns, weil wir, die besten Schiffer weit und breit, jeden Fremdling glücklich in die Heimat bringen. Einst aber werde ein phaiakisches Schiff von seiner Hand am Ufer versteinert werden und bald darnach unsere Stadt von einem hohen Felskamm eingeschlossen sein. Nie wieder wollen wir darum einem Schutzflehenden das Geleite geben, Odysseus sei der letzte gewesen! Und nun lasst uns Poseidon zwölf Stiere opfern, damit er sich unser erbarme und die Stadt nicht mit einem Felsgebirge umschließe!“ Die Phaiaken erschraken, als sie ihren König so sprechen hörten, und rüsteten in Eile das Opfer. Unterdessen war, an Ithakas Strand, Odysseus erwacht. Er blickte verwundert umher und wusste nicht, wo er sich befand. Athene hatte ihren Liebling in Nebel gehüllt; niemand sollte ihn zu früh erkennen. Dem Helden selbst erschien das Altbekannte, vertraute gewundene Pfade, die Bucht, die Felsen, die hohen Bäume, alles fremd. „Ich Unseliger!“ rief er und sprang auf. „In welche neue Fremde bin ich geraten? Welche Unholde werden mir hier an diesem Gestade begegnen? O wäre ich doch bei den Phaiaken geblieben! Nun aber haben mich auch diese verraten und mir sicherlich auch meine Gaben geraubt. Zeus, der alle Leidenden rächt, vergelte es ihnen!“ Doch als er ein wenig gefasster um sich blickte, entdeckte er bald das Gold und die Gewänder, die Dreifüße und Becken, die da lagen. Traurig irrte er am Strande hin, da kam ihm Pallas Athene in der Gestalt eines jungen Schafhirten entgegen, doch gekleidet wie ein Königssohn, mit einem Spieß in der Hand. Voll Freude eilte der Dulder auf die Göttin zu. „Kannst du mir sagen, edler Jüngling, in welchem Lande ich bin?“ fragte er sie. „Ist es Festland oder eine Insel, worüber meine Füße schreiten?“ „Du musst weither kommen“, antwortete die Göttin freundlich, „dass du dieses Land nicht kennst, das doch aller Welt bekannt ist. Freilich, Rosse kann man hier nicht tummeln wie anderswo, dazu ist es zu gebirgig, doch ist es darum noch nicht arm! Herrlich gedeihen ihm Wein und Korn, Ziegen und Rinder weiden in Menge rundum, die kräftigsten Wälder wachsen auf ihm, und die frischesten Quellwasser sprudeln aus seinem Gestein – bis nach Troia ist Ithakas Ruf gedrungen!“ Beinahe hätte Odysseus aufgejubelt, als er den Namen seines Vaterlandes nennen hörte, aber er beherrschte sich. Er gab sich auch nicht zu erkennen, sondern log dem Fremden vor, er sei aus Kreta hierher geflohen, weil er dort einen Helden, der ihm seine troische Beute rauben wollte, erschlagen habe. Als er mit seiner Geschichte zu Ende war, lächelte die Göttin. Sie streichelte seine Wange und verwandelte sich zugleich in eine schöngebildete Jungfrau. „Der müsste schon ein Ausbund an Schlauheit sein“, sagte sie scherzend, „der dich überlisten wollte; selbst einem Gotte fiele das schwer. Nicht einmal im eigenen Lande legst du deine Verstellung ab! Und dennoch hast du mich nicht erkannt, du Klügster aller Klugen! Hast nicht geahnt, dass ich in allen Gefahren um dich war und dir die Liebe der Phaiaken zuwendete. Nun aber bin ich gekommen, dir das geschenkte Gut verbergen zu helfen und dir zu sagen, welche Prüfungen dich zu Hause erwarten und wie du sie bestehen kannst.“ Staunend blickte Odysseus die Göttin an. „Wie sollte ein Sterblicher dich, erhabene, heilige Tochter des Zeus, erkennen, wenn du ihm stets in wechselnder Gestalt entgegentrittst?“ fragte er. „Jetzt aber beschwöre ich dich beim Namen deines Vaters, der allen gebietet: Sage mir die Wahrheit, bin ich wirklich in Ithaka, bin ich wirklich heimgekehrt?“ „Blicke um dich“, antwortete Athene. „Siehst du nicht die Bucht des Phorkys vor dir liegen? Erkennst du den Ölbaum nicht und die Grotte der Nymphen, vor welcher du so manches Sühnopfer dargebracht? Kennst du das Waldgebirge nicht mehr, das dort herübergrüßt?“ So sprach die Göttin und zerstreute rasch den Nebel vor den Augen des Helden. Da erkannte Odysseus die Heimat. Von Freude übermannt, warf er sich zu Boden und küsste die Erde. Hierauf betete er zu den Nymphen, den Schutzgottheiten des Ortes, und barg sodann mit Hilfe Athenes die kostbaren Gaben der Phaiaken in einer Felskluft. „Nun sei guten Mutes“, rief die Göttin, „ich will dir helfen, den Freiem ihr schamloses Werben und Prassen blutig zu vergelten. Penelope, dein Weib, ist so rein und treu wie an dem Tage, da du sie verließest – um ihretwillen nimm auch noch die letzten Mühen auf dich, ich werde dir in allem beistehen.“ Da sprach Odysseus: „Wenn du mir hilfst, fürchte ich selbst dreihundert Feinde nicht sage mir, was ich tun soll!“ „Vor allem bleibe unerkannt“, erwiderte Athene, „keiner darf wissen, dass du Ithakas Boden betratest. Das Fleisch deiner Glieder schrumpfe ein, vom Haupte schwinde dein braunes Haar, ein abscheulicher Kittel umhülle den Leib, dein strahlendes Auge trübe sich! Niemand wird dich so erkennen, weder die Freier noch Penelope noch Telemachos, dein Kind.“ Sprach’s und berührte den Helden mit ihrem Stabe: da schrumpften seine Glieder ein, sein Haar fiel ab, glanzlos blickten die Augen, er war in einen schmutzigen, zerlumpten Bettler verwandelt. „Nun suche den Hirten Eumaios auf, der deine Schweine hütet“, sagte die Göttin, „er hängt treu an dir. Am Koraxfelsen über der Quelle Arethusa findest du ihn bei seiner Herde. Von ihm kannst du alles erfragen, was zu Hause vorgeht. Ich eile indessen nach Sparta und rufe deinen Sohn Telemachos zurück; er weilte am Hofe des Fürsten Menelaos, forschte bei ihm nach deinem Schicksal. Bald sollst du ihn in die Arme schließen!“ Sie übergab Odysseus noch einen Bettelstab und einen schäbigen Ranzen mit einem Strick als Tragband, dann entschwand sie. Odysseus wanderte über das Waldgebirge und suchte die Stelle, die ihm seine Beschützerin genannt hatte. Langsam und bedächtig wie ein Greis schritt er dahin; sein Kittel bestand aus einem räudigen Hirschfell, welk war die Hand, die den Stab umfasste, sein Rücken war gebeugt, ganz und gar unkenntlich war der Held geworden. Am Koraxfelsen fand er richtig den treuesten seiner Knechte, den Sauhirten Eumaios. Auf einer kleinen Hochebene hatte dieser aus schweren Steinen ein Gehege gebaut, darin standen zwölf Koben, einer am andern, und in jedem waren fünfzig Mutterschweine zur Zucht eingesperrt. Die Eber, weit geringer an der Zahl, hatten ihren Platz außerhalb der Ställe und blieben dort auch über Nacht; es waren ihrer nur noch dreihundertsechzig, weil die Freier täglich einen von ihnen, der schön gemästet sein musste, zum Schmause forderten. Eumaios hielt vier Hunde, wild wie reißende Wölfe, die bewachten seine Herde. Als nun Odysseus herankam, bemerkten sie ihn sogleich und stürzten sich scharf bellend auf den fremden Bettler. Odysseus aber tat das Klügste, was er tun konnte, er legte den Stab aus der Hand und setzte sich nieder. Aber da eilte auch schon der Sauhirt aus seiner Hütte herbei, scheuchte die bösen Hunde mit Steinen auseinander und sprach mitleidig zu Odysseus: „Armer Alter, nun hätten dich meine Hunde beinahe zerfleischt, und du hättest neue Trübsal zu meinem alten Kummer gehäuft. Seit Jahr und Tag Sitz ich hier, klage hilflos um meinen lieben Herrn und hüte seine Schweine für andere Leute. Die verprassen böswillig sein Hab und Gut, während er vielleicht im Elend nicht einmal ein Stückchen trockenen Brotes zu beißen hat und in der Fremde umherirrt, wenn er die liebe Sonne überhaupt noch sieht. Ach, es ist ein Jammer! Doch nun komm in die Hütte und labe dich an Speise und Wein. Bist du satt, so berichte mir, woher du kommst und was dich grämt; du siehst aus, als hättest du viel erduldet.“ Sie betraten die Hütte. Der Sauhirt streute dem Ankömmling Laub und Reisig auf den Boden, breitete seine eigene Lagerdecke, ein großes, zottiges Gemsenfell, darüber und lud ihn zum Sitzen ein. Dann ging er zu den Koben hin, fing zwei Ferkel heraus, schlachtete sie und briet die Fleischstücke am Spieß. Die frischen Braten legte er seinem Gast vor und bewirtete ihn mit süßem Wein, den er aus dem irdenen Krug in seinen hölzernen Becher goss. Dann setzte er sich dem Fremdling gegenüber und sagte: „Nun iss und trink, fremder Mann, so gut wir es haben! Es ist Ferkelfleisch, die Mastschweine essen mir die Freier weg, diese gewalttätigen Schurken, die weniger Götterfurcht im Herzen haben als die frechsten Seeräuber. Wahrscheinlich haben sie Kunde vom Tode meines lieben Herrn, darum werben sie nicht nach der Sitte, sondern bedrängen sein Weib, bedrohen den Knaben und vertun sein letztes Gut. Ach, wäre Odysseus aus Troia zurückgekehrt, glaube mir, ich müsste dich nicht so kärglich bewirten! Er hätte mir längst ein Haus gegeben und mancherlei Güter, auch ein treues Weib. So aber bin ich allein mit den Knechten und arm, muss dir den Wein in einem hölzernen Becher vorsetzen anstatt in einem goldenen, wie es Gästen geziemte. Aber mein Herr ist längst zugrunde gegangen. Möge doch Helenas Stamm in finsterem Unheil vergehen, da so viele tapfere Helden um dieses Weibes willen ins Verderben stürzten!“ Während der Hirt so sprach, aß Odysseus hastig das Fleisch und trank den Wein in raschen Zügen, wortlos tat er es. Nicht beim Mahle weilten seine Gedanken, sein Geist sann einzig auf Rache, die er an den Freiem nehmen wollte. Als ihm der Hirt den Becher zum andernmal füllte, trank er ihm freundlich zu und bat: „Beschreibe mir doch deinen Herrn genauer, lieber Freund, vielleicht bin ich ihm irgendwo begegnet? Ich bin weit in der Fremde herumgekommen.“ Doch der Sauhirt winkte ab und sprach: „Meinst du, wir würden einem umherirrenden Manne glauben, der uns von unserem Herrn etwas erzählt? Zu oft schon kamen Landfahrer zu meiner guten Herrin und ihrem Sohn, rührten sie mit allerlei Märchen über unsern König zu Tränen, bis man ihnen Mantel und Leibrock reichte und sie wohl bewirtete. Nein, meinem Herrn haben gewiss Hunde und Vögel schon längst das Fleisch von den Knochen gerissen, oder die Fische haben es gefressen, und die blanken Gebeine bleichen irgendwo am Kieselstrande. Ach, nimmermehr kriege ich einen so gütigen Herrn! Wenn ich an ihn denke, so denke ich nicht wie an einen Gebieter, sondern wie ein Bruder steht er vor meiner Seele.“ „Nun, mein Lieber“, entgegnete ihm Odysseus, „weil du so ungläubig bist, versichere ich dir mit einem Eidschwur: Odysseus kehrt heim! Meinen Lohn für die Botschaft, Mantel und Leibrock, will ich erst haben, wenn er da ist, aber ich schwöre dir beim Zeus, bei deinem gastlichen Tisch und beim heiligen Herd deines Herrn: Wenn dieser Monat abgelaufen ist, wird er eintreten in sein Haus und die Frechen furchtbar züchtigen, die es wagen, sein Weib und seinen Sohn zu bedrängen!“ Eumaios hörte diese Worte wohl, aber er schüttelte verzagt sein Haupt. „Trinke ruhig deinen Wein“, sagte er, „und lass uns von anderem sprechen. Für Odysseus erhoffe ich nichts mehr, und Telemachos, sein Sohn, schafft mir bittere Sorge: Ein Gott oder ein Mensch hat ihm den Sinn betört, dass er gen Pylos fuhr, um nach dem Vater zu forschen. Jetzt liegen die Freier zu Schiff in einem Hinterhalt, sie lauern ihm auf und werden mit ihm den Letzten aus Odysseus‘ uraltem Stamm vertilgen… Doch nun, Greis, erzähle mir von deinen eigenen Leiden. Wer bist du? Was führte dich nach Ithaka?“ Auf der Stelle ersann Odysseus ein langes Märchen und erzählte dem lauschenden Hirten er sei der verarmte Sohn eines reichen Mannes aus Kreta, habe vor Troja mitgefochten, habe den Odysseus kannengelernt und auf mancherlei abenteuerlichen Irrfahrten immer wieder, bald da, bald dort, von ihm gehört. Eumaios hörte ihm teilnahmsvoll zu, doch für alles, was ihm der Fremdling von seinem lieben Herrn zu berichten wusste, hatte er nur ein wehmütiges Kopfschütteln. Als es Nacht geworden war, bereitete er seinem Gast neben dem Herd ein warmes Lager aus Schafpelzen und Ziegenhäuten und deckte ihn mit einem großen, dicken Mantel zu, den er sonst bei heftigem Wintersturm selber zu tragen pflegte. Hierauf bewaffnete er sich mit einem scharfen Spieß und legte sich draußen bei den Schweinekoben zur Ruhe nieder, von einem Felsstück gegen den schneidenden Nordwind geschützt. Er musste zur Hand sein, wenn es etwa galt, die kostbaren Tiere gegen nächtliche Überfälle, gegen Diebe oder Wölfe, zu verteidigen. Odysseus blickte ihm gerührt nach. Er freute sich von Herzen, dass er einen so ehrlichen Knecht besaß, der das Gut seines Herrn noch immer getreulich hütete, obwohl er diesen für längst verloren hielt. Dann umfing ihn erquickender Schlummer. Telemachos aber, fern in Sparta, fand keinen Schlaf. Ruhelos wälzte er sich auf seinem Lager im Palaste des Königs Menelaos hin und her, das Schicksal seines Vaters bekümmerte ihn tief. Sein Reisekamerad Peisistratos, Nestors Sohn, schlief neben ihm sanft und gut. Auf einmal erhellte überirdisches Licht die blaue Nacht: Athene war im Königshause zu Sparta angekommen und trat vor die Jünglinge hin. „Höre mich, Telemachos“, sagte sie, „du tust nicht gut daran, die Heimat zu meiden und dich in der Fremde herumzutreiben! Bitte den Fürsten Menelaos unverzüglich um die Heimfahrt, ehe deine Mutter eine Beute der Freier wird! Schon hat Eurymachos die anderen alle mit seinen Geschenken überboten, und erringt er Penelope, dann magst du sehen, wie es dir ergeht. Auf! Eile zurück! Doch hüte dich: In der Meerenge zwischen Ithaka und Samos liegen die tapfersten der Freier in einem Hinterhalt; sie wollen dich umbringen, ehe du die Heimat erreichst. Fahre also nur des Nachts, für günstigen Wind wird ein Gott sorgen. Hast du Ithaka glücklich erreicht, so sende die Genossen nach der Stadt, du selbst aber ersteige das Waldgebirge und begib dich zum treuen Eumaios, der die Schweine hütet. Bis zum folgenden Morgen bleibe bei ihm, dann schicke ihn zur Mutter in den Palast, er möge ihr deine Rückkehr aus Pylos melden.“ So sprach die Göttin und flog wieder zum Olymp empor. Die blaue Nacht wich rosiger Morgenröte, da erhob sich Telemachos, warf Leibrock und Mantel über und trat vor den Fürsten. „Erhabener König“, sprach er, „entlasse mich in die Heimat, die Mutter bedarf meines Schutzes, und das Herz sehnt sich nach dem lieben Lande der Väter.“ Da bereitete Menelaos den beiden Jünglingen ein Abschiedsmahl und beschenkte Telemachos reichlich. Einen silbernen Mischkrug mit goldenem Rande gab er ihm auf die Reise mit, es war eine getriebene Arbeit des kunstreichen Hephaistos selber, und die Königin Helena überreichte ihm ein selbstgewirktes Gewand mit den Worten: „Nimm dies als ein Andenken aus Helenas Hand, lieber Sohn, am Hochzeitstage soll es deine junge Braut tragen; bis dahin mag es deine Mutter verwahren. Nun kehre fröhlichen Herzens in dein Vaterhaus zurück.“ Telemachos dankte ehrerbietig für die köstlichen Gaben, während sein Freund Peisistratos jedes Stück bewundernd hochhob, ehe er es im Wagenkorb verstaute. Am Abend dieses Tages übernachteten die Jünglinge wiederum in der Burg des edlen Diokles zu Pherai und erreichten tags darauf glücklich Pylos, die Stadt Nestors. Telemachos aber bat den Freund, nicht beim Vater zuzukehren, sondern ohne Aufenthalt zur Küste weiterzureisen, wo sein gutes Schiff auf dem Sande lag und wartete. „Einer Göttin Gebot drängt mich zur Eile“, sprach er, „es erlaubt mir nicht, zu verweilen, wie innig ich auch dem König Nestor zugetan bin. Schilt mich also nicht lieblos, teurer Freund, und lenke die Rosse geradenwegs zum Strand!“ Peisistratos verstand die Ungeduld und gehorchte. Sie fuhren an der Stadt vorbei, erreichten das Schiff und wurden von den Ruderknechten freudig begrüßt. Telemachos nahm Abschied von seinem Freunde, brachte seiner Beschirmerin Athene ein Opfer dar und bestieg mit den Genossen das Fahrzeug. Sie lösten die Halteseile, richteten den Mast aus Fichtenholz auf und setzten die schneeweißen Segel. Ein kräftiger Wind erhob sich und trug sie der Heimat zu. Unterdessen weilte Odysseus bei Eumaios und dessen Knechten. in der Hütte des Sauhirten. Er wollte das Herz des Mannes prüfen, wollte herausbekommen, wie lange er ihn wohl bei sich beherbergen würde, darum sagte er nach dem Abendbrot: „Morgen gehe ich in die Stadt. Ich will von Haus zu Haus an die Türen pochen und sehen, ob ich nicht etwas Brot und Wein erhalte. Vielleicht lasse ich mich auch im Palaste des Odysseus der Königin melden und erzähle ihr, was ich alles von ihrem Gatten weiß; oder ich biete den Freiem für Kost und Unterkunft meine Dienste an. Holz spalten und Feuer anmachen, den Bratspieß wenden, Speisen vorlegen und Wein verteilen – darauf verstehe ich mich trefflich und auch noch auf allerlei andere Geschäfte, womit der Geringe dem Vornehmen dienen kann.“ Aber der Sauhirt runzelte sogleich die Stirn und rief: „Was fällt dir ein! Die Freier, die können dich nicht brauchen, die haben ganz andere Diener: blühende Jünglinge, prächtig gekleidet, das Haupt von Salben duftend. Nein, nein, bleibe du nur bei mir, du fällst mir nicht zur Last. Warte getrost, bis der Sohn meines Herrn wiederkehrt, der wird dich gewiss mit allem Nötigen versorgen, er hat seines Vaters gütiges Herz.“ „Erzähle mir doch mehr von deinem Herrn“, bat Odysseus. „Leben seine Eltern noch? Oder sind sie beide schon zum Hades hinabgestiegen?“ „Nein“, antwortete der Hirt, „sein Vater Laertes lebt noch, gramzernagt trauert er um den fernen Sohn. Seine Mutter freilich, die raffte der Kummer um Odysseus längst dahin. Oh, sie war eine gute Frau! Sie hielt mich wie ihr eigenes Kind, und als ich herangewachsen war, stattete sie mich reichlich aus und schickte mich hieher aufs Land, wo ich des Königs Schweine hüte. Jetzt muss ich allerdings manches entbehren, denn Penelope kann nichts für mich tun. Die Freier umschwärmen sie, und ein ehrlicher Diener kommt nicht bis zu ihr vor.“ Nun war Odysseus neugierig geworden. „Woher stammst du denn?“ fragte er den Sauhirten weiter. „Wie kamst du in Laertes‘ Haus und Dienst?“ Eumaios schenkte seinem Gast den hölzernen Becher wieder voll und antwortete: „Trink, Alter, und höre zu. Es ist eine lange Geschichte, aber hier zwingt uns ja niemand, früh schlafen zu gehen, und wenn wir die ganze Nacht durchschwatzen, so stört das keine Seele… Weit von hier schwimmt im blauen Meer die Insel Syria, ein fruchtbares, gesundes Eiland mit zwei Städten, über welche der mächtige Fürst Ktesios herrschte, mein Vater. Ich war noch ein kleiner Knabe, da landeten dort eines Tages Seefahrer aus Phoinikien, die brachten auf ihrem Schiffe allerlei niedlichen Kram mit und boten ihn bei uns feil. Nun hatten wir gerade damals eine schöne, schlanke Phoinikerin in unserem Palast, ein kunstfertiges Weib, das mein Vater einmal irgendwo als Sklavin gekauft hatte. Sie stand ob der kostbaren Arbeiten, die ihre Hände am Webstuhl hervorbrachten, bei meinen Eltern so hoch in Gunst, dass man mich ihr anvertraute. Tagaus, tagein war ich um sie, und verließ sie das Haus, um irgend etwas zu besorgen, so hüpfte ich vor ihr her. Auf einem solchen Gang durch die Stadt lernte sie eines Tages einen der phoinikischen Krämer kennen, einen Landsmann, und sie hängte ihr Herz an den Kerl. Der Schiffer versprach ihr, sie zu den Ihren in die Heimat, nach Sidon, mitzunehmen. Dafür gelobte ihm die treulose Sklavin als Fährlohn nicht nur goldenes Geschirr, das sie aus unserem Hause stehlen wollte, sondern noch etwas, das er in der Fremde teuer verkaufen konnte: nämlich mich, das Kind ihrer Herrschaft. Und so kam es auch. Die Kaufleute blieben noch ein ganzes Jahr auf der Insel, und als sie endlich mit dem schwerbeladenen Schiff zur Heimfahrt rüsteten, erschien ein listiger Mann im Palaste meines Vaters und bot ein besonders kostbares Halsband zum Verkauf an. Meine Mutter und die Mägde umstanden ihn im Saal, ließen das Schmuckstück von Hand zu Hand gehen und feilschten um den Preis. Währenddessen gab der Mann unserer Sklavin heimlich einen Wink, und kaum hatte er das Haus verlassen, so nahm diese mich an der Hand und entführte mich. Im Vorsaal, wo mein Vater Tische für die Ratsversammlung hatte decken lassen, raffte sie drei schwere Goldbecher an sich und barg sie in den Falten ihres Gewandes. Ich dachte mir in meiner Einfalt nichts dabei und folgte ihr. Bei sinkender Sonne langten wir im Hafen an und bestiegen mit der Mannschaft das Schiff. Sechs Tage waren wir unterwegs, da wurde das verräterische Weib von einem straf enden Pfeile der Artemis getroffen. Sie fiel im Schiffsraum plötzlich tot zu Boden wie ein Seehuhn, das der Jäger geschossen hat. Man warf den Leichnam über Bord, den Fischen zum Fraß, und ich blieb mutterseelenallein zurück unter den Männern. Endlich landeten die Phoiniker auf Ithaka, und hier erhandelte mich der alte Laertes von den Kaufleuten. So bin ich fremdes Königskind auf unsere Insel gekommen.“ „Was du berichtest, bewegt mir das innerste Herz“, sagte Odysseus, nachdem Eumaios geendet hatte. „Doch siehe, dir hat Zeus zu dem Bösen doch auch Gutes beschert, er hat dich nach aller Not einem gütigen Manne in die Hand gegeben, der es dir an nichts fehlen ließ und auf dessen Gut du heute noch behaglich lebst. Ich aber irre wie ein Verbannter heimatlos umher.“ Unter solchen Gesprächen ging die Nacht hin. Sie legten sich wohl zur Ruhe, schliefen aber wenig, denn bald weckte sie die Morgenröte. Als die Sonne voll auf Ithakas Gestade schien, landete in einer abgelegenen Bucht. Dem Rat gehorsam, hieß er die Gefährten sogleich nach der Stadt weiterrudern. „Morgen feiern wir gemeinsam unsere glückliche Rückkehr, da will ich fröhlich mit euch tafeln!“ rief er ihnen nach. Dann kehrte er dem Schiff den Rücken und machte sich auf den Weg zum Sauhirten. Eumaios und Odysseus rüsteten in der Hütte das Frühstück, indes die Knechte die Koben öffneten und die Schweine auf die Weide hinaustrieben. Sie setzten sich an den Tisch und langten behaglich zu. Plötzlich schlugen draußen die Hunde an. Es war aber nicht der böse Laut, mit dem sie einen Fremden, einen Bettler oder Wegelagerer anfielen, sondern ein freudiges Bellen, in das sich schmeichelndes Winseln mischte; man merkte gleich, dass sie den Herankommenden kannten. „Da kommt ein Freund zu Besuch“, sagte Odysseus zum Hirten, „gegen Fremde benehmen sich deine Hunde anders, ich habe es erfahren.“ Er hatte das Wort noch kaum zu Ende gesprochen, als Telemachos unter der Hüttentüre stand. Dem Sauhirten fiel vor lauter Freude das Trinkgeschirr aus der Hand; er stürzte seinem jungen Herrn entgegen, umarmte ihn und bedeckte sein Antlitz, seine Augen und Hände mit Tränen und Küssen. Es war, als begrüßte er einen aus dem Totenreich Zurückgekehrten. Noch auf der Schwelle stehend, fragte Telemachos: „Sage mir, Väterchen Eumaios, treffe ich daheim die Mutter noch an, oder hat sie schon einer der Freier hinweggeführt? Ist das Bett meines hohen Vaters noch mit sauberen Linnen bedeckt, oder ist es schon von hässlichen Spinnweben überzogen? Erwartet Penelope den König noch, oder hat sie die Hoffnung schon aufgegeben, dass uns der Vater je wiederkommt?“ „Es ist alles beim alten“, erwiderte Eumaios seufzend, „standhaft und duldend verharrt Penelope, Tag und Nacht weint sie Ströme von Tränen um den verlorenen Gatten.“ Nun erst übergab der Jüngling dem Hirten seine Lanze und trat ein. Odysseus wollte ihm seinen Sitz überlassen, doch Telemachos wehrte freundlich ab: „Bleib nur, Fremdling, der Mann da wird mir schon meinen Platz anweisen.“ Aus grünem Laub, über welches er einen Schafspelz breitete, machte Eumaios seinem jungen Herrn einen weichen Polster, er mischte dem Ankömmling im Becher Wein, tischte gebratenes Fleisch auf und rückte den Brotkorb wohlgefüllt daneben. Nun tafelten sie zu dritt, und da Telemachos den Hirten nach Herkunft und Schicksal des Fremdlings befragte, erzählte ihm dieser die Fabel, mit welcher Odysseus vor Tagen seine Neugier befriedigt hatte. „Auf der Flucht vor seinen Verfolgern kam er zu mir“, schloss er seinen Bericht, „nun übergebe ich ihn dir, dem jungen Fürsten unseres Landes.“ „Dein Wort schmerzt mich“, erwiderte Telemachos, „denn wie könnte ich den Alten in meinem Hause beschützen? Du weißt ja selbst, wie es dort zugeht! Nein, behalte ihn lieber hier, ich will nicht, dass er zu den Freiem geht, die so frech im Palaste schalten und walten. Rock und Mantel werde ich ihm senden, auch ein Paar Sohlen für die Füße und ein zweischneidiges Schwert, auch genug Speise, damit er dir und den Knechten nicht beschwerlich fällt.“ „Wie kommt es“, fragte der Fremde verwundert, „dass sich jene Freier so viel herausnehmen und dem Königssohne trotzen dürfen? Hasst dich das Volk? Wäre ich so jung wie du und der Sohn des Odysseus – eher sollte mir dieser Schamlosen einer den Kopf von den Schultern hauen, als dass ich ihren schändlichen Taten länger untätig zuschaute!“ Voll Bitterkeit erwiderte ihm Telemachos: „Nein, lieber Gast, das Volk hasst mich so wenig wie meinen verschollenen Vater, und es fehlt dem Sohne des Odysseus keineswegs an Mut oder an Waffen. Aber es sind zu viele feindliche Fürsten von allen Inseln ringsum mit Gefolge und Gesinde auf Ithaka gelandet, zu viele sind in der Heimat selbst aufgestanden und mit ihnen in den Palast eingedrungen, als dass ich ihrer Herr würde. Sie bedrängen meine Mutter, die weicht ihnen aus, so gut sie kann, aber sie vermag sich ihrer doch nicht völlig zu erwehren. So lungern sie denn im Königshause umher, schmausen und vergnügen sich den lieben, langen Tag und die halben Nächte. Sie zehren allen Reichtum auf, und bald werden mein Haus und Gut verwüstet sein.“ Hierauf wandte sich Telemachos an den Sauhirten und bat ihn: „Ach, Väterchen, sei doch so gut, eile hinein in die Stadt, noch ehe die Freier in den Palast kommen, und melde meiner Mutter Penelope, dass ich wieder da bin. Doch sag es ihr leise, damit es die Mägde nicht hören und unseren Feinden erzählen, mit denen manche unter einer Decke stecken.“ „Soll ich nicht gleich den kleinen Umweg über das Landgut deines Großvaters Laertes machen und auch ihm die Freudenbotschaft überbringen?“ fragte der Hirt. „Nein“, antwortete Telemachos, „halte dich nirgends auf. Die Mutter kann meine Rückkunft gar nicht früh genug erfahren.“ Da band sich Eumaios die Sohlen unter die Füße, griff zu seiner Lanze und eilte fort.
Nun waren Vater und Sohn in der Hütte allein. Da erschien Pallas Athene, die Göttin, vom der Pforte des Hofes in dem Gestalt einer schönen Jungfrau. Sie war nur dem Odysseus sichtbar und den Hunden, die sich winselnd vor ihr verkrochen, dem Telemachos nicht. Sie winkte den Dulder aus der Hütte zu sich an die Hofmauer und sprach zu ihm: „Du brauchst dich jetzt nicht mehr länger vor deinem Sohne zu verbergen. Gib dich ihm zu erkennen und gehe mit ihm hinab zur Stadt, dort bereitet dem Treiben der Freier ein blutiges Ende! Bald folge ich euch nach in den Palast, ich brenne vor Kampfbegier!“ So sprach die Göttin. Hierauf berührte sie den Bettler mit ihrem goldenen Stab, und – o Wunder! – da verjüngte sich seine Gestalt, seine Schultern strebten empor, sein Antlitz straffte und bräunte sich, die Wangen wurden voller, dicht und lockig fiel das Haar vom Scheitel in den Nacken, und der gekräuselte Bart umrahmte wieder das Kinn. Das räudige Hirschfell schwand von seinen Schultern, Leibrock und Mantel umhüllten wie vordem den königlichen Leib. Die Göttin entwich, Odysseus trat in die Hütte ein. Staunend blickte ihm Telemachos entgegen, er glaubte einen Gott zu sehen, so sehr blendete ihn der Glanz, der von dem Vater ausging. Mit abgewandten Augen sprach er: „O Fremdling, wie bist du verändert! Du bist gewiss einer der Himmlischen. Lass dir opfern und sei uns gnädig!“ „Nein, ich bin wahrlich kein Gott“, entgegnete ihm Odysseus, „ich bin dein Vater, um den du dich so sehr gegrämt hast. Mein Kind, erkenne mich doch!“ Dabei stürzten ihm die lange zurückgehaltenen Tränen aus den Augen, er eilte auf den Sohn zu und umarmte ihn. Telemachos aber konnte es noch nicht fassen, dass der Vater wirklich zurückgekehrt sei. „Nein“, rief er verzweifelt, „du bist nicht Odysseus, du bist ein böser Dämon, der mich täuscht, damit ich nur noch tiefer im Leid versinke – ein Sterblicher kann sich nicht so verwandeln!“ „Ich bin es dennoch!“ sagte Odysseus und küsste schluchzend den Jüngling, der ihn ungläubig anstarrte. „Nach zwanzig Jahren kehrt Ithakas Fürst in die Heimat zurück. – Unsägliches hab ich erduldet! Das Wunder meiner Verwandlung ist Athenes Werk: leicht fällt: es den Göttern, einen Sterblichen bald zu erniedrigen, bald zu erhöhen.“ Nun erst umarmte Telemachos den Vater, auch seine Tränen rannen, der Gram überwältigte beide so heftig, dass sie laut und lange weinten. So herzzerreißend ertönte ihre Klage wie die Klage der Vögel, denen ein roher Bauernbursch die Jungen aus dem Nest raubte, noch ehe sie flügge wurden. Endlich fasste sich Telemachos wieder und fragte: „O Vater, sage mir doch, auf welchen Wegen du in die Heimat zurückkehrtest, was hielt dich so lange auf?“ Da erzählte ihm Odysseus, wie es ihm seit Troia ergangen und wie ihn die treuen Phaiaken gepflegt und, während ihn süßer Schlaf umfangen, über das Meer gebracht hätten.,, Und nun bin ich da“, so schloss er seine Erzählung, „um auf Athenes Geheiß über den Tod unserer Feinde mit dir zu beraten. Nenne mir die Zahl der Freier, damit ich weiß, ob wir beide sie zu bewältigen vermögen oder ob ich nach Helfern Ausschau halten muss.“ „O Vater“, erwiderte Telernachos, „ich hörte die Kraft deines Armes und die Klugheit deines Rates immer wieder rühmen! Doch diesmal sprichst du zu kühn! Wir sind zwei, der Freier aber sind über hundert, das Gesinde nicht mitgerechnet. Ohne Freundeshilfe werden wir ihrer nicht Herr.“ Da richtete sich Odysseus hoch auf. „Mein Sohn“, sagte er, und Feuer brach aus seinen Augen, „Athene und Zeus sind auf unserer Seite, was brauchen wir da noch andere Hilfe? Wenn der Morgen graut, gehst du in die Stadt zurück und setzt dich zu den Freiem in den Saal, als wäre nichts geschehen. Mich wird Athene wieder in einen Bettler verwandeln, und in dieser Gestalt werde ich mit dem Sauhirten nachkommen. Doch was immer mir die Freier zufügen mögen, ob sie nach mir werfen oder mich an den Füßen über die Schwelle zerren, du musst es ertragen. Halte also dein Herz im Zaum! Mit Worten magst du versuchen, sie zu besänftigen, doch werden sie sich nicht daran kehren, denn ihr Verderben ist beschlossen, sie rennen selber hinein. Auf einen Wink von mir verbirgst du sodann die Waffen, die im Saale hängen, in einer der oberen Kammern des Hauses, und fragen die Freier danach, so sagst du: Ich habe sie wegschaffen lassen, weil sie vom Herdrauch den Glanz verlieren, den Schimmer, den sie noch zu Odysseus‘ Zeiten hatten. Zwei Schwerter und zwei Speere nur lässt du zurück und zwei stierlederne Schilde dazu, die sind für uns beide. Kein Mensch darf wissen, dass ich heimgekehrt bin, weder Laertes noch der Hirte, ja nicht einmal deine Mutter!“ Während Odysseus und Telemachos in der Hütte des Sauhirten so miteinander sprachen, landete das Schiff, das Telemachos und seine Genossen von Pylos nach Ithaka gebracht hatte, im Hafen der Stadt. Die Begleiter des Königssohnes, der leider vergessen hatte, ihnen Schweigen aufzutragen, schickten einen als Herold zu Penelope, der sie von Telemachos‘ Heimkehr unterrichten sollte. Gleichzeitig kam auch der Sauhirt vom Lande herein, und die beiden trafen einander im Palast. Da rief der Herold laut vor allen Dienerinnen: „Königin, dein Sohn ist wiedergekommen!“ Eumaios aber richtete ihr die Botschaft ganz im geheimen und ohne Zeugen aus und bat sie, auch den Großvater Laertes durch eine Schafferin von Telemachos‘ glücklicher Rückkunft zu benachrichtigen. Sodann eilte er wieder heim zu seinen Schweinen. Die Freier hörten von der Heimkehr des Telemachos durch die treulosen Dienerinnen der Königin. Voll Unmut setzten sie sich zusammen auf die Bänke vor dem Tor, und Eurymachos sprach vor den Versammelten: „Nimmer hätten wir gedacht, dass der Knabe diese Fahrt vollenden und unseren Freunden in der Meerenge entwischen würde! Rüstet sogleich unser bestes Schiff aus und meldet den Gefährten im Seehinterhalt seine Rückkehr!“ Doch noch während er diese Worte sprach, lief das Schiff der Freier mit vollen Segeln in den Hafen ein. Nun eilten alle hinab ans Ufer und geleiteten die Ankömmlinge auf den Markt. Antinoos, ihr Anführer, trat vor und rief: „Wir sind nicht schuld daran, dass uns der verhasste Knabe entkommen ist! Bei Tage stellten wir auf allen Uferhöhen Wachen aus, und des Nachts kreuzten wir beständig auf der Meerenge, einzig darauf bedacht, den Telemachos zu fangen und in aller Stille umzubringen. Doch ihn muss einer der Unsterblichen geleitet und beschirmt haben, nicht einmal sein Schiff ist uns zu Gesicht gekommen, und nun liegt es hier im Hafen neben dem unseren! Dafür lasst ihn uns jetzt in der Stadt aus dem Wege räumen, denn solange der Jüngling lebt, werden wir nie ans Ziel kommen. Er ist klug, und bringt ero es unter die Leute, dass wir ihm auflauerten, so steht am Ende das Volk gegen uns auf und jagt uns aus dem Lande. Wie gefällt euch mein Vorschlag?“ Lange schwiegen die Fürsten; endlich erhob sich Amphinomos aus Dulichion, der bestgesinnte unter den Freiem, und sagte: „Freunde, ich möchte nicht, dass wir des Odysseus einzigen Sohn heimlich ums Leben bringen; ein Königsgeschlecht durch Mord auszurotten, ist allzu furchtbar. Lasst uns zuvor die Götter befragen. Billigen sie unsere Tat, so bin ich bereit, ihn mit eigener Hand zu töten; verwehren sie es uns, so rate ich euch, kein Blut zu vergießen.“ Diese Rede gefiel den Freiem. Sie schoben ihren Plan auf und kehrten in den Palast zurück. -Am selben Abend kam der Sauhirt in seine Hütte zurück. Odysseus und Telemachos bereiteten gerade ein geschlachtetes Schwein zum Nachtmahl zu, als er eintrat. Athenes goldener Stab hatte dem Dulder wiederum Bettlergestalt verliehen, so dass Eumaios ihn nicht erkennen konnte. „Kommst du endlich?“ rief ihm Telemachos entgegen. „Was bringst du Neues aus Ithaka? Lauern die Freier noch immer auf mich, oder sind sie von ihrem Hinterhalt zurück?“ „Sie mögen wohl zurück sein“, antwortete der Hirt, „ich sah ein Schiff mit Bewaffneten einlaufen.“ Da blinzelte Telemachos vergnügt lächelnd seinem Vater zu, doch so, dass es der Sauhirt nicht sehen konnte: So waren denn die Freier alle wieder vollzählig im Palast! Zufrieden setzte sich auch Odysseus zu Tisch. Sie schmausten miteinander und legten sich bald zur Ruhe. Frühmorgens gürtete sich Telemachos und sprach zu Eumaios: „Alter, ich muss in die Stadt, ich will nach meiner Mutter sehen. Komm du mit dem Fremden nach. Ich hab es mir überlegt: er soll sich in der Stadt sein Brot erbetteln! Wo komme ich hin, wenn ich aller Welt Last auf mich nehme, ich habe genug an meinem eigenen Kummer zu tragen. Fühlt sich der Greis dadurch beleidigt, um so schlimmer für ihn.“ Diese Rede war natürlich eine abgekartete Sache, und Odysseus antwortete sogleich: „Lieber Freund, auch ich möchte hier nicht länger verweilen, zu lange schon und zu aufopfernd hat dein Hirte mich beherbergt und bewirtet – nun will ich selbst in die Stadt, wo sich jeder Bettler leichter fortbringt als auf dem Lande. Lass mich noch ein wenig am Herde sitzen, dass ich mich wärme, und wenn dann die Sonne steigt und die Luft ein wenig milder geworden ist, mag mich der gute Eumaios dahin begleiten.“
Telemachos eilte aus der Hütte. Als er vor seinen Palast kam, war es noch immer früh am Tage, er hatte den Weg vom Gebirge an die Küste rasch zurückgelegt. Von den Freiem war nichts zu sehen, sie schliefen noch. Also lehnte Telemachos seine Lanze an eine Säule des Eingangs und schritt über die steinerne Schwelle in den Saal, wo die alte Schafferin Eurykleia gerade damit beschäftigt war, den stattlichen Thronsessel mit schönen Fellen zu bedecken. Als sie den Jüngling, ihren jungen Herrn, erblickte, eilte sie mit Freudentränen auf ihn zu und hieß ihn willkommen. Auch die anderen Mägde umringten ihn, küssten ihm Hände und Schultern. Bald kam auch Penelope herzu. Weinend schloss sie den Sohn in die Arme und rief: „Mein süßes Leben, kommst du mir wieder! Wie habe ich mich um dich gegrämt, seit du heimlich nach Pylos fuhrst, den Vater zu suchen! Sag mir, was bringst du für Nachricht?“ „O Mutter“, antwortete Telemachos, „mach mir das Herz mit deiner Frage nicht noch schwerer, als es schon ist! Ich bin selbst eben erst dem Tode entronnen, Athenes Schild und die Nacht verbargen mich vor den Mördern, die meinem Schiffe auflauerten. Von Odysseus erfuhr ich nur so viel, wie König Menelaos wusste: dass ihn ein Sturm auf die Insel Ogygia verschlug, wo ihn die Nymphe Kalypso wider seinen Willen zurückhält. Es fehlt ihm zur Heimfahrt an Schiffen und Ruderknechten. Doch nun, liebe Mutter, lass dir ein erquickendes Bad bereiten, lege frische Gewänder an und gelobe den Göttern ein reiches Dankopfer, wenn sie uns dereinst den Vater und König zurückführen und Rache an den Freiem vergönnen.“ Penelope gehorchte dem Rat und begab sich ins Innere des Königshauses, wo sie so manche Nacht auf einsamem Lager um Odysseus geweint.

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